Dass die Coronapandemie Spanien besonders hart trifft, ist auch eine Folge des EU-Spardiktats

Eine tödliche Rezeptur

Die Covid-19-Pandemie trifft Spanien besonders hart. Das ist auch eine Folge der jahrelangen Austeritätspolitik und des EU-Spardiktats.

Spanien war nach Italien das zweite europäische Land, in dem sich die Covid-19-Pandemie mit brutaler Wucht entfaltet und das Gesundheitssystem innerhalb kürzester Zeit an seine Grenzen gebracht hat. Am Montag lag die Zahl der bekannten Infektionen in Spanien bei über 130 000, im Verhältnis zur Einwohnerzahl liegt das Land damit weltweit an erster Stelle. Fast 13 000 Menschen sind bereits an den Folgen einer Infektion mit dem Virus Sars-CoV-2 verstorben. Am schwersten betroffen ist Madrid, gefolgt von Katalonien.

Krankenpfleger und Ärztinnen basteln sich mittlerweile ihre Schutzkleidung selbst, aus Müllsäcken und Taucherbrillen.

Aus der Hauptstadt kursieren Videos von Patienten, die auf Decken in Fluren von völlig überlasteten Krankenhäusern liegen und nicht behandelt werden können, eine Eislaufhalle in Madrid wurde zur Leichenhalle umfunktioniert, Notlazarette mit Tausenden Betten wurden aufgebaut. Ende März fand der Katastrophenschutz des Militärs mehrere Altenheime vor, in denen Bewohner in ihren Betten sich selbst überlassen worden waren, zusammen mit bereits an Covid-19 Verstorbenen. Spanien befindet sich im Ausnahmezustand, der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez, der in einer Koalition mit dem linken Bündnis Unidos Podemos regiert, sprach von »der schlimmsten Situation seit dem Bürgerkrieg«.

Die Gründe, warum die Pandemie in manchen Ländern viel verheerendere Auswirkungen zeigt als in anderen, sind vielfältig. In Spanien wurde am 14. März – nach Meinung vieler zu spät – der landesweite Alarmzustand ausgerufen. Bereits am Tag zuvor hatten sich an den Ausfallstraßen Madrids kilometerlange Staus gebildet. Viele wohlhabende Madrilenen wollten noch schnell zu ihren Ferienhäusern an den Küsten Südspaniens fahren. Die Regierung hatte zwar Mitte März einen lockdown beschlossen, verbunden mit einer strikten Ausgangssperre, jedoch mussten die Menschen weiterhin zur Arbeit gehen und sich auf dem Weg dorthin in die öffentlichen Verkehrsmittel drängen. Erst zum 30. März wurden, nach Protesten von Gewerkschaften, auch alle nicht systemrelevanten Unternehmen und Fabriken geschlossen, vorerst bis zum 9. April. Am Samstag kündigte Sánchez an, das Parlament werde diese Maßnahme bis nach Ostern verlängern. Die Ausgangssperre soll bis zum 25. April gelten.

Dass Spanien eine so hohe Todesrate hat und das dortige Gesundheitssystem zumindest regional in so kurzer Zeit zusammengebrochen ist, liegt auch daran, dass die Pandemie nach Italien nun das zweite Land Europas ­erwischt hat, das von der Finanzkrise ab 2007 und der daraufhin von der EU erzwungenen Austeritätspolitik besonders hart getroffen wurde. Während Milliarden Euro in die Bankenrettung gesteckt wurden, versuchte man zugleich, durch Privatisierungen und drastische Einschnitte in den Sozialstaat die Staatsverschuldung zu mindern, wie es die europäischen Geld­geber verlangt hatten. Die Folge waren ein enormer Anstieg der Armut und Arbeitslosigkeit. Noch vergangenes Jahr wurden 54 000 Wohnungen wegen Miet- oder Hypothekenschulden geräumt, das sind fast 150 Räumungen pro Tag.

»Austerität tötet« – der Slogan der jahrelangen Proteste gegen die Sparpolitik wird in Spanien jetzt auf brutale Weise wahr. In Madrid, wo aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten Patienten im Krankenhausflur sterben, wurden im Zuge der Eurokrise 4 000 Stellen im Gesundheitswesen und 3 000 Krankenhausbetten gestrichen, während die Bevölkerung der Stadt um eine halbe Million angewachsen ist. Die Folgen dieser Politik sind nicht erst seit Ausbruch der Coronakrise tödlich. Amnesty International hat 2018 unter dem Titel »Das falsche Rezept« einen Bericht veröffentlicht, der darstellt, wie die Austeritätspolitik das Gesundheitssystem Spaniens über Jahre kaputtgespart und vor allem Menschen in prekärer Lage den Zugang zur Grundversorgung erschwert oder gar unmöglich gemacht hat. Die staatlichen Gesundheitsausgaben wurden allein von 2009 bis 2013 um über zwölf Prozent gekürzt, in derselben Zeit stieg die Arbeitslosigkeit auf fast 27 Prozent an. Mit gerade mal drei Krankenhausbetten pro tausend Einwohnern liegt Spanien auf Platz 25 aller EU-Staaten.

Damit einher ging auch eine enorme Verschlech­terung der Arbeitsbedingungen des medizinischen Personals, die jetzt zur lebensbedrohlichen ­Gefahr wird. Aufgrund mangelnder Schutzausrüstung haben sich über 12 000 Gesundheitsmitarbeiter mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Krankenpfleger und Ärztinnen basteln sich mittlerweile ihre Schutzkleidung selbst, aus Müllsäcken und Taucherbrillen. »Sie machen uns zu Kamikaze des Gesundheitssystems«, beschrieb eine Madrider Krankenpflegerin die Situation. Trotz dieser Zustände beschloss das Gesundheitsministerium Freitag vergangener Woche, erkranktes Personal solle, sofern es fieberfrei ist, bereits sieben Tage nach dem Auftreten von Symptomen wieder arbeiten gehen, ohne getestet zu werden. Medizinervereinigungen haben sich in einem offenen Brief gegen diese »Fahrlässigkeit« gestellt, die sie »unter keinen Umständen« akzeptieren wollen.

Diese Zustände sind aber keine Fahrlässigkeit, sondern Folge der Ökonomisierung des Gesundheitssektors, die auf einer Kalkulation der Knappheit beruht. Auch im Gesundheitssystem herrscht das kapitalistische Prinzip des Sozialstaats, der eben keine humanitäre Einrichtung ist, sondern den Menschen gerade so viel Grundversorgung und Unterstützung zugesteht, dass ihre Arbeitskraft erhalten bleibt, und ihr Elend knapp über dem Level hält, bei dem sie aus existentieller Not zu rebellieren beginnen würden. Gemäß diesem Prinzip handeln der Staat und die Kapitalfraktionen kontinuierlich aus, wie sich der Profit durch Reduzierung beziehungsweise Privatisierung der medizinischen Versorgung maximieren lässt, ohne dass dabei zu viele auf der Strecke bleiben. Dass Menschen auf der Strecke bleiben, ist aber bereits fest eingeplant.

Dieses System bricht jetzt in vielen Ländern zusammen, da wegen der Pandemie die Rechnung nicht mehr aufgeht und zu viele Menschen in zu kurzer Zeit vor die Hunde gehen. Das durch die Verknappung der Ressourcen verursachte Leid trifft nicht mehr nur Einzelne, sondern die Gesellschaft als Ganzes, und bringt sie an den Rand des Abgrunds. In vielen Staaten wird kurzerhand das sonst heilige Prinzip des freien Marktes außer Kraft gesetzt, aber nicht aus humanitärer Einsicht, sondern aus existentieller Notwendigkeit. Auch in Spanien sah sich die Regierung zu drastischen Maßnahmen gezwungen, um die Katastrophe zumindest ein wenig abzuschwächen. So wurden private Krankenhäuser unter die staatliche Direktive gestellt – entgegen anderslautender Berichte jedoch nicht verstaatlicht –, um den Zugriff auf alle medizinischen Ressourcen des Landes zu sichern. Zudem wurden, wie schon lange von Sozialverbänden gefordert, Zwangsräumungen ausgesetzt.

Mittlerweile bemühen sich erste politische Gruppen um Selbstorganisation, angesichts einer Regierung, die sich zwar progressiv nennt, aber nicht in der Lage ist, die Menschen ausreichend zu beschützen. Zum 1. April haben über 200 Organisationen zum Mietstreik aufgerufen. Dies geschieht im Rahmen der Kampagne »Plan de Choque Social«, mit der Basisorganisationen, politische Gruppen und Gewerkschaften Notfallmaßnahmen einfordern – darunter ein Grundeinkommen und das Verbot von Kündigungen –, um zu verhindern, dass sich die Coronakrise zur sozialen Katastrophe ausweitet. Die Protestbewegung wird einen langen Atem brauchen. Spaniens Wirtschaft erholt sich erst seit 2014 langsam und hat nach Jahren der Rezession ein dezentes Wachstum von knapp 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verzeichnet, was nicht zuletzt durch die Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse erreicht wurde. Nun steht infolge der Coronakrise die nächste große Wirtschaftskrise an.

Spaniens wirtschaftliche Erholung beruhte stets auf dem Tourismus, der mit zwölf bis 15 Prozent der Wirtschaftsleistung die wichtigste Einnahmequelle darstellt. Die wird nun mindestens für das laufende Jahr versiegen, eine enorme Neuverschuldung wird folgen. Die Gefahr ist groß, dass auch die linke Regierung als Antwort darauf zur autoritären Austeritätspolitik greifen und den Sozialstaat weiter abbauen wird. Möglicherweise wird auch die EU sie erneut dazu zwingen. Dann würde sie genau die Strategie wiederholen, die einen großen Anteil daran hat, dass die Coronapandemie das Land gerade an den Rande eines sozialen Kollapses führt.