Erdoğans Truppen gehen im syrischen Idlib in die Offensive

Putin hält sich zurück

Mindestens 34 türkische Soldaten wurden bei einem vermutlich ­russischen Luftangriff in Idlib getötet. Daraufhin begann Erdoğan eine Offensive gegen die syrische Armee und öffnete die Grenzen zur EU für Flüchtlinge.

Eines muss man Recep Tayyip Erdoğan lassen: Er hat sie alle überrascht, Wladimir Putin, Bashar al-Assad und nicht zuletzt auch die EU. Zwar hatte Erdoğan mit einem weiteren Feldzug in Syrien und der Öffnung der Grenzen zur EU gedroht, doch nur wenige hatten geglaubt, dass er das auch tun und alle seine Mittel dafür einsetzen würde.

Vorige Woche war es so weit. Nachdem am Donnerstag bei einem Luftangriff mindestens 34 türkische Soldaten in Idlib getötet worden waren, begannen die türkischen Truppen eine Offensive gegen die syrische Armee und mit dieser verbündete Milizen. Nach Angaben von Martin Chulov in einem Artikel im Guardian vom Sonntag haben türkische Drohnen und Artillerie mindestens 106 syrische Soldaten getötet und Dutzende weitere Milizionäre, darunter mindestens 21 afghanische und pakistanische Schiiten, die der Iran nach Idlib gesandt hatte. Auch mindestens acht Mitglieder der libanesischen Hizbollah kamen bei der türkischen Offensive ums Leben. Zwei syrische Kampfflugzeuge wurden abgeschossen, Panzer und Radarsysteme der syrischen Armee zerstört.

Dem »Guardian« zufolge haben türkische Drohnen und Artillerie mindestens 106 syrische Soldaten und Dutzende mit ihnen verbündete schiitische Milizionäre getötet, auch von der Hizbollah.

Es war das erste Mal in dem Konflikt, dass zwei Nachbarstaaten, Syrien und die Türkei, direkt in in eine bewaffnete Konfrontation gerieten. Zuvor hatten mit den jeweiligen Seiten verbündete Milizen gegeneinander gekämpft.

Die Türkei war zuvor mit Tausenden von Soldaten in der syrischen Provinz Idlib einmarschiert. Man glaubte trotzdem, dass Erdoğan hilflos sei, da ihm dort auch der russische Militärapparat gegenüberstand. Doch nun steht Putin plötzlich vor der Frage, ob er seine militärischen und ökonomischen Druckmittel wirklich gegen die Türkei einsetzen will, wodurch ihm auch selbst erheblicher Schaden entstehen würde. Er könnte die Erdgaslieferungen in die Türkei einstellen, würde aber damit die Diskussion über die strategische Abhängigkeit von russischem Erdgas in Europa befeuern. Eine direkte militärische Konfrontation mit der Türkei, nur um den syrischen Diktator Assad zu schützen, könnte er der russischen Bevölkerung nicht gut verkaufen. Ein solches Unternehmen fernab der eigenen Grenzen gegen ein Nato-Land wäre auch militärisch riskant, auch wenn weder die USA noch die Nato Erdoğans Offensive militärisch direkt unterstützen wollen. Die russische Regierung war nach Beginn des türkischen Großeinsatzes in Idlib zunächst schweigsam.

Der Russland-Experte Kevork Oskanian erklärt die milde Reaktion Russlands auf die türkische Operation damit, dass Putin Erdoğan einige gesichtswahrende Militärschläge zugestehe, weil er langfristig eine Reihe von Gründen habe, mit dem türkischen Präsidenten weiter zu paktieren. Diese und ähnliche Analysen passen in ein Bild, wonach Putin immer der Überlegene und Erdoğan der Dumme ist, der auf eine »Männerfreundschaft« mit Putin vertraut.

Die beiden führen wohl eher eine Art Zweckbeziehung, und in dieser ist Putin keineswegs allmächtig. Er hat viel in die Offensive gegen Idlib investiert. Nicht zuletzt hat er sich in heimischen Medien dafür ausgiebig feiern lassen. Wenn Erdoğan nun die syrische Armee erheblich schwächt und auf die Ausgangspositionen in Idlib zurückzwingt und Putin ihm das zugesteht, muss es gute Gründe dafür geben. Zudem lässt der russische Präsident faktisch seinen engen Verbündeten Assad im Stich, obwohl er doch in der internationalen Politik stets Wert darauf gelegt hatte, dass Russland im Gegensatz zu den USA zu seinen Verbündeten stehe. Schlimmer noch, Assads Truppen und mit ihnen verbündete Milizen erleiden schwere Verluste wegen eines Luftangriffs, der wahrscheinlich von russischen Flugzeugen ausgeführt wurde.

Als am Donnerstag voriger Woche bei dem Luftangriff auf einen Militärkonvoi mindestens 34, wenn nicht 50 türkische Soldaten starben, meldete sich Erdoğan zwar nicht öffentlich zu Wort, doch sein Vorgehen wirkte gut vorbereitet. Die Grenz­öffnung lief, was den türkischen Staat anbetrifft, keineswegs chaotisch ab. Das arabische Programm des staatlichen Fernsehens TRT zeigte eine Karte mit Wegen nach Frankreich. In Istanbul wurden Busse gechartert, die Flüchtlinge kostenlos an die griechische Grenze fuhren.

Gleichzeitig mit den Angriffen der türkischen Armee brach weit in Assads Hinterland vor allem in Dara’a eine Revolte los, wie es sie seit zwei Jahren nicht mehr gegeben hatte. Möglicherweise gab es Absprachen zwischen Oppositionskräften und der Türkei.

Es scheint, als hätte Erdoğan nur auf die Gelegenheit zum Losschlagen gewartet. Erstmals wurden Flugzeuge der syrischen Luftwaffe über Idlib von mutmaßlich türkischen Infanteristen mit Raketen beschossen. Die Offensive der Rebellen zur Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Saraqib unterstützte die türkische Armee in einem größeren Umfang als bisher. Das traf Assads und Putins Kriegsführung in Idlib empfindlich. In den Wochen zuvor waren bereits 18 türkische Soldaten bei Luft- oder Artillerieangriffen getötet worden.

Erdoğans Vorstoß hat nicht zuletzt die Europäer kalt erwischt. Seit Jahren hat die EU nicht einmal den Ansatz einer Syrien-Politik. Warum auch? Schließlich hat Erdoğan auch mit EU-Geldern eine große Mauer entlang der Grenze zu Syrien gebaut, die Flüchtlinge abhält. Was dahinter geschieht, dafür sind andere verantwortlich, so die Position der EU. Sobald etwas geschieht, wodurch doch Flüchtlinge nach Europa kommen könnten, reagiert die EU mit Appellen zur Mäßigung. Nach Angaben des UNHCR sind in diesem Jahr bis zum 23. Februar etwa 4 700 Flüchtlinge übers Meer von der Türkei nach Griechenland gekommen, die Hälfte davon stammt aus Afghanistan. Doch nun kamen allein am Wochenende 1 200.

Das Problem der EU-Staaten ist nicht zuletzt, dass sie sich keine Wege für eine Einflussnahme auf den syrischen Bürgerkrieg geschaffen haben. Dessen langfristige Folgen sind völlig jenseits ihres Horizonts. Dazu gehört insbesondere die Frage, wie sich Erdoğans Eingreifen auswirken könnte.

Erdoğans Vorstoß hat nicht zuletzt die Europäer kalt erwischt. Seit Jahren hat die EU nicht einmal den Ansatz einer Syrien-Politik.

Beendeten Assad und Putin ihre Offensive nun und würde die syrische Armee zurückgedrängt, wären die mittlerweile mindestens 700 000 Flüchtlinge an der türkischen Grenze nicht mehr unmittelbar in Gefahr. Viele könnten in ihre zerstörten Dörfer und Städte zurückkehren. Dann blieben aber wohl nicht nur Idlib, sondern auch die anderen von der Türkei besetzten Gebiete in Syrien auf unabsehbare Zeit unter der Kontrolle Erdoğans. Idlib würde ein noch größeres Reservoir für die türkische Rekrutierung kampferfahrener islamistischer Söldnertruppen. Erdoğan würde ermutigt, verstärkt militärische Außenpolitik zu betreiben. Außer in Libyen könnte das die EU auch in der Ägäis und in den Gewässern um Zypern zu spüren bekommen, wo Erdoğan exklusive Wirtschaftszonen beansprucht. Trotz der Fixierung auf Libyen gilt Erdoğans größtes militärisches Interesse derzeit der Marine.

Türkische Oppositionelle äußern gelegentlich die Befürchtung, Erdoğan könnte, wenn ihm seine Macht in der Türkei zu entgleiten droht, seine syrischen Söldnertruppen auch im eigenen Land einsetzen. Der nächste Schritt ist jedoch in Syrien selbst zu erwarten. Erdoğan besteht weiterhin auf einer 30 Kilometer breiten »Schutzzone« entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze. In diesem Gebiet liegt unter anderem die Großstadt Qamishli, der Sitz der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien. Gelegentlich hat Erdoğan sogar gefordert, diese Zone bis an den Euphrat auszudehnen; sie würde dann ein Drittel Syriens umfassen, mit den Gebieten um Aleppo annähernd die Hälfte. Neben den Kämpfen in Idlib greift die türkische Armee derzeit auch kurdisch kontrollierte Gebiete nördlich von Aleppo und um Manbij am Euphrat an. Auch das geht über die geforderten 30 Kilometer bereits hinaus.

Der Begriff »Schutzzone« beinhaltet zudem die Vorstellung, dass Assad an der Macht bleibt. Für eine Schutzzone ist bislang keine Partizipation der lokalen Bevölkerung vorgesehen. Sollte eine solche Schutzzone irgendwann eingerichtet werden, dann von Erdoğans Gnaden. Was die syrischen Kurden betrifft, so hat Erdoğan mehrmals klar gemacht, dass er Araber als die rechtmäßigen Herren Syriens ansieht; die turkmenische Minderheit rechnet er zu den türkischen Brüdern. Ferner dürfte sich Erdoğan stärker sunnitisch-islamischen Extremisten zuwenden. Die stärkste bewaffnete Macht ist die auch vom türkischen Militär nicht ganz kontrollierte HTS, ein Ableger von al-Qaida.

Am Dienstag schienen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der türkischen und der syrischen Armee in Idlib abzuebben. Für Donnerstag wurde ein Treffen zwischen Putin und Erdoğan in Moskau angekündigt.