Mark Sedgwick und die Ursprünge des okkulten Denkens

Der Spuk okkulten Denkens

Mit seiner umfassenden Studie »Gegen die moderne Welt« dringt der britische Historiker Mark Sedgwick in die dunklen Ecken des Traditionalismus vor.

»Die Welt zerfällt, / Die Mitte hält nicht mehr; und losgelassen nackte Anarchie.« Die Worte des britischen Dichters William Butler Yeats (1865-1939) bringen die Angst zum Ausdruck, die hinter der antimodernen Haltung steckt. Der Westen sei deren Vertretern zufolge dem Untergang geweiht, weil spirituelle Werte verschwänden. »Erneuerung oder Tod« lautet die Parole des sogenannten Traditionalismus, der so unterschiedliche Personen wie Ralph Waldo Emerson, Aldous Huxley, T. S. Eliot und Prinz Charles verbindet.

Es ist verwunderlich, dass noch immer wenig über diese Weltanschauung bekannt ist. Zum Teil liegt es wohl an ihren obskuren Hauptakteuren und den verschlungenen Pfaden, auf denen sie sich bewegen. Der britische Historiker Mark Sedgwick möchte dies ändern: In seiner Studie »Gegen die moderne Welt« beschäftigt er sich ausführlich mit den um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in konservativ-christlichen Milieus Europas entstandenen eso­terischen Zirkeln, die sich auf mystische Religionsformen des Fernen Ostens und des Islam bezogen, um dem Individualismus und Materialismus des Westens zu begegnen. Es geht in dem Buch häufig um den ­rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade, der sich in krude schamanistische Ideen verstrickte und antisemitische Vorstellungen verbreitete; um den in rechten Kreisen immer noch verehrten Faschisten Julius Evola und den Neoeurasianismus eines Alexander Dugin, der auch in Deutschland seine Leserschaft findet.

Der Traditionalismus ist eine Haltung, die die moderne Welt im Zerfall begriffen wähnt. Mit Rückgriff auf vermeintliche uralte Wahrheiten streben seine Anhänger eine Wiedergeburt des Europas an. Diese Überzeugung vertrat der französiche Metaphysiker und Schriftsteller René Guénon, der als Begründer des Traditionalismus gilt. Dem 1886 geborenen Sohn eines Schadensregulierers gelang jedoch die Bündelung verschiedener Elemente des von Angst getriebenen Denkens, das um die Wende zum 20. Jahrhundert vielfach durch die Öffentlichkeit spukte. Nach einem Studium der Mathematik und Philosophie verschrieb Guénon sich dem metaphysischen Denken, seine Promotionsschrift wurde jedoch wegen Unwissenschaftlichkeit von der Hochschule abgelehnt. Beeinflusst von okkultistischen und freimaurerischen Zirkeln sowie hin­duistischen und sufistischen Ideen kreierte Guénon eine bunt zusammengeschusterte Glaubenslehre, die auf einen spirituellen Ursprung – philosophia perennis, ewige Philosophie – zurückgehen sollte.

»Verglichen mit allen uns bekannten historischen Zivilisationen«, schreibt Guénon, »erscheint die moderne westliche Zivilisation als eine wahre Anomalie, denn sie ist die einzige, deren Entwicklung rein materiell ausgerichtet ist.« Diese nennt er »monströs«, die modernen Gesellschaften hätten eine »geistige ­Regression« erfahren, die nur ein Zurück zu »reiner Geistlichkeit« aufhalten könne. Darunter verstand er die Ablehnung instrumenteller Vernunft, positiver Wissenschaft und industrieller Massenfertigung. Sein spirituelles Gedankengebilde fügte er aus nichtwestlichen Quellen zusammen, weil er glaubte, dass traditionelle Gesellschaften Spuren eines ursprünglichen Wissens bewahrt hätten. Ausführlich widmete er sich den Glaubenslehren des Nahen und Fernen Ostens sowie der indigenen Bevölkerung Nordamerikas.

Im Alter von 26 Jahren nahm Guénon den Sufinamen Abdel Wahid ­Yahia an. Er gründete Religionsschulen, in denen Eingeweihte regel­mäßig zu Gebeten und Ritualen zusammenkamen. Als der islamische Konvertit 1951 in seiner Wahlheimat Kairo starb, war er ein einflussreicher Mann. Zu seinen wichtigsten Schriften zählt »Die Krisis der Neuzeit« von 1927. Als rastloser Autor und Netzwerker hatte er zahlreiche Schüler, die sein Werk fortsetzten.

Traditionalisten sind im Verständnis Sedgwicks alle jene, die von Guénons Denken berührt oder erfasst wurden. Dazu zählen die Theosophin Helena Blavatsky, aus deren Rassemythos sich auch die antisemitische Anthroposophie Rudolf Steiners speist. Mit Mircea Eliade, dem spiritus rector der Religionsphänomenologie, machte ein Traditionalist wissenschaftliche Karriere. Eliade verstand es, sich nie offen als Anhänger des antimodernen Denkens zu zeigen, um seiner Reputation nicht zu schaden. Sein Ansatz, Glaubenslehren seien nur in ihrer eigenen Wahrheit von innen her zu begreifen, blieb lange eine methodische Mode seines Fachs. Erst spät unterzog man ihn ­einer ausführlichen Kritik. Die Ab­lehnung technischen Fortschritts verfing auch bei ökobewegten und ­kapitalismuskritischen Theoretikern. So warb der Traditionalist Ernst Friedrich Schumacher in seinem einschlägigen Beststeller »Small Is Beautiful« sehr erfolgreich für eine Rückkehr zu vermeintlich ursprünglichen Werten und für eine Abkehr von der westlichen Zivilisation. Auch Prinz Charles’ wohltätiges Stiftungswesen hat hier seine geistige Quelle.

Ein wichtiger Vertreter des Traditionalismus war Julius Evola (1898–1974). Mit Ausdauer versuchte der italienische Esoteriker und Rassist, aus dem Traditionalismus politische Schlüsse zu ziehen und ihn zur Grundlage für den Faschismus zu machen. Der Traditionalismus sollte über die marode Welt hinwegfegend die Erneuerung besorgen. Evola unterhielt Kontakte zur SS, Mussolini zeigte sich von seinen Schriften begeistert. Dennoch äußert Sedgwick sich zurückhaltend über Evolas Einfluss: »Im Endeffekt spielte der ­Traditionalismus trotz der Bemühungen Evolas weder im italienischen Faschismus noch im deutschen Nazismus eine große Rolle. Das lag teilweise daran, dass der spätere Mussolini kaum Interesse an Ideologie hatte und Hitler sein eigener Ideologe war. Weder sie noch ihre Regime brauchten daher Evola.« Auf die Person Evolas bezogen mag diese Einschätzung richtig sein. Sedgwick unterschätzt jedoch, dass den faschistischen Bewegungen auch von diversen esoterisch-okkulten Strömungen der Boden bereitet wurde. Nicht grundlos etwa übernahm die NSDAP das Symbol des Hakenkreuzes von der Thule-Gesellschaft. Oftmals fallen Sedgwicks Urteile zu vorsichtig aus. Evola wird auch heutzutage nicht nur in der Esoterik- und Gothic-Szene ­gelesen, sondern ist auch eine entscheidende Inspirationsquelle für Stephen Bannon und die Alt-Right.

Solche einordnenden Verweise ­finden sich in dem etwas hölzern geschriebenen Buch leider viel zu ­selten. Die Gründlichkeit, mit der Sedgwick den vielen Strömungen des Traditionalismus nachspürt, geht oft zu Lasten der Übersichtlichkeit. So wichtig die Vielzahl von Fakten für eine umfassende Chronik ist, so hilfreich wären verständliche Zusammenfassungen und thesenhafte ­Zuspitzungen gewesen. Der Traditionalismus bleibt daher im Buch politisch wenig greifbar. Ob seine innere Logik zu bestimmten politischen ­Positionen verleitet, erfährt der Leser nicht. So heißt es lapidar über den Vordenker der Neuen Rechten, Alain de Benoist, er habe Guénon zwar gelesen, dies aber lediglich aus historischem Interesse.

Deutlicher wird Sedgwick in seinem Abschlusskapitel, das sich Alexander Dugin und der Entwicklung des Neoeurasianismus in Russland widmet. Ausführlich legt der Autor dar, wie der einstige Ideengeber Putins und ­Autor des rechtsextremen deutschen Magazins Compact ein russisch ­dominiertes Europa herbeiphantasiert – und dafür in einschlägigen Kreisen viel Beifall erntet. Man hätte sich mehr von solchen Bezugnahmen auf die Gegenwart gewünscht.
»Gegen die moderne Welt« ist ­letzlich nicht die »geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts«, die der Untertitel ankündigt. Äußerst erhellend ist die Studie allemal. Sedgwick dringt in die dunklen Ecken des Traditionalismus vor und liefert die Grundlagen für ein Verständnis des antimodernen Denkens im 20. Jahrhundert.

Mark Sedgwick: Gegen die moderne Welt: Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Nadine Miller. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 549 Seiten, 38 Euro