Ein Gespräch mit Vinzenz Kremer, Mitglied des Veganladenkollektivs »Dr. Pogo«, über Gemüse, Kollektivbetriebe und den Einheitslohn

»Wir haben mit einem Bedarfslohn experimentiert«

Das Berliner Veganladenkollektiv »Dr. Pogo«. besteht seit Anfang 2013 im Ortsteil Neukölln und wird von zwölf Personen betrieben. Dort sind vegane Lebensmittel, Kosmetika, Haushaltsmittel, Bücher und Süßigkeiten erhältlich.
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Was heißt es, einen Lebensmittelladen in Selbstverwaltung zu betreiben?

In unserem Ladenkollektiv arbeiten zwölf Menschen ohne Chefs. Wir sind nicht die Eigentümer, sondern die Betreiber des Ladens. Er gehört einem Verein, einer juristischen Person. Wir arbeiten zudem eine neue Rechtsform aus, die an diejenige des Mietshäusersyndikats angelehnt ist.

Ihrem Selbstverständnis zufolge soll es im Ladenkollektiv keine Hierarchien geben. Entstehen nicht zwangsläufig informelle Hierarchien, etwa weil Menschen unterschiedliche Wissensstände haben?

Alle Vereinbarungen, die wir treffen, sind verbindlich in unserem Statut festgeschrieben. Dort haben wir auch festgehalten, dass wir keine Chefs und keine Angestellten haben. In Notlagen sind allerdings Aushilfen in Absprache mit der Basisgewerkschaft FAU möglich. Neueinsteiger in unser Kollektiv haben eine Probezeit von sechs Monaten mit regelmäßigen Evaluationen. Informelle Hierarchien existieren selbstverständlich, und es gehört zu unserem Tagesgeschäft, diesen zu begegnen und sie strukturell abzubauen.

Wäre es nicht sinnvoller, Menschen für eine bestimmte Zeit in bestimmte Verwaltungspositionen zu wählen?

In unserem Kollektiv gibt es die monatlich rotierende Funktion einer Chefin oder eines Chefs vom Dienst. Das ist eine für jedes Kollektivmitglied einmal jährlich obligatorische Aufgabe. Zentrale Aufgaben wie die Buchhaltung und der Einkauf, die eine Spezialisierung erfordern, werden grundsätzlich nicht von einer Person erledigt, sondern auf mehrere Personen verteilt. Zudem muss zweimal jährlich ein Rechenschaftsbericht erstellt werden.

Wie hoch ist der Lohn in Ihrem Kollektiv?

Wir hatten von Anfang das Ziel, einen branchenüblichen Lohn zu zahlen.­ Unser Einheitsstundenlohn liegt mit 9,35 Euro netto weit über dem Mindestlohn. Von dem ehrgeizigen Ziel, einen tariflichen Stundenlohn zu erreichen, der unseren Tätigkeiten entspricht, sind wir noch weit entfernt.

Gab es Diskussionen im Kollektiv über die Art der Entlohnung?

Wir hatten von Anfang einen Nettoarbeitslohn, das heißt, der Laden zahlt alle Lohnnebenkosten. Eine Zeitlang haben wir mit einen Bedarfslohn experimentiert, der sich an den jeweiligen Bedarfen der Leute orientiert. Wir hatten also unterschiedliche Löhne. Kollektivmitglieder mit Kindern verdienten mehr. Dann haben wir die höheren Löhne auf Kollektivmitglieder ausgeweitet, die andere Menschen pflegen oder sich um befreite Tiere kümmern. Aber am Ende sind wir von diesem Modell abgekommen. Stattdessen versuchen wir, ungleichen Ausgangssituationen wie der Kindersorge oder einer chronischen Krankheit durch nichtmonetäre Regelungen zu begegnen.

Was war der Grund?

Wir sind keine Kommune. Für uns ist die Gemeinsamkeit, dass wir alle einen Teil unserer Lebenszeit für die Arbeit im Kollektiv verausgaben. Darauf gründen die Löhne. Für die Ermittlung der unterschiedlichen Bedarfe hätte es viel mehr Vertrauen und intensivere Prozesse untereinander gebraucht. Da stellt sich auch die Frage der Verhältnismäßigkeit. Wer zum Beispiel in einer teuren Wohnung in Prenzlauer Berg lebt, hat einen größeren Bedarf als jemand, der in einer Neuköllner Wohngemeinschaft wohnt. Sollen sie dann für die gleiche Arbeit unterschiedlichen Lohn kriegen?

Wie geht das Kollektiv mit den wirtschaftlichen Zwängen in einer kapitalistischen Wirtschaft um, in der es sich behaupten muss?

Selbstverständlich müssen wir auch unternehmerisch denken und Verluste minimieren. Uns ist bewusst, dass wir uns nur die Löhne auszahlen können, die wir auch verdienen. Wir haben Verantwortung gegenüber unseren Kreditgebern, das sind Freunde von uns. Bankkredite sind durch unser Statut ausgeschlossen, in dem wir festgeschrieben haben, dass es keine private Gewinne für uns gibt, aber auch keine Profite für Dritte. Wir haben als Betrieb mit Löhnen weit unter dem damals noch nicht existierenden Mindestlohn angefangen. Das war Selbstausbeutung. Der Kredit bestand also aus der Lebenszeit, die wir für die Arbeit im Kollektiv aufgewendet haben. Andere haben genügend finanzielles oder ­soziales Kapital.

Wie gehen Sie im Kollektiv mit Krisen um?

In der Anfangszeit hatten wir einen wirtschaftlichen Einbruch, weil wir uns zu hohe Löhne ausgezahlt haben. Wir hatten zu viele Ausgaben und zu wenige Einnahmen. Nach einer Durststrecke von drei Jahren sind wir mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem wir uns zufriedenstellende Löhne auszahlen. In dieser Zeit der Krise haben wir gelernt, effektiver zu arbeiten.

Hört sich das nicht nach Rationalisierung in Selbstverwaltung an?

Wir haben eine Verantwortung allen gegenüber. Das ist ein Kurs, den wir auch als Professionalisierung oder Controlling bezeichnen. Das ist aber nicht mit Rationalisierung in einem Chefbetrieb unter kapitalistischer Regie zu verwechseln.

Wo ist der Unterschied?

Wir haben geguckt, was unser wichtigster Verkaufsbereich ist, und haben festgestellt, dass es sich um Obst und Gemüse sowie verpackungsfreie Produkte handelt. Das haben wir am Anfang gar nicht so bedacht. Das Sortiment haben wir ausgeweitet und ­verbessert. Das konnten wir nur durch die Verbesserung unserer Arbeitsprozesse, Kommunikationswege und Entscheidungsstrukturen. Das ist ein Beispiel für effizienteres Arbeiten. Da geht es eben nicht darum, die Arbeitszeit zu erhöhen oder die Löhne zu kürzen.

Sie haben bereits das Statut erwähnt. Wie ist das entstanden?

Die Grundlage ist das Positionspapier und Musterstatut der FAU Hamburg für Kollektivbetriebe. Wir haben fünf Jahre daran gearbeitet, um unser eigenes Statut festzuschreiben.

Warum sucht ein Kollektivbetrieb wie Ihrer überhaupt die Nähe zu einer Gewerkschaft?

Es stimmt, dass es in einem Kollektivbetrieb keine Tarifgegner gibt. Zugleich wollen wir aber auch politisch wirken. Eine dauerhafte Veränderung unserer Gesellschaft ist nur in einem Bündnis solidarischer Menschen und Gruppen möglich. Für uns geht es darum, dass das Habitat, in dem wir wirtschaften, transformiert wird. Wir streben eine verbindliche Solidarisierung an. Ein Beispiel ist das Vertriebskollektiv »Gemein und nützlich«, da versuchen wir mit solidarischen Betrieben und Food-Coops gemeinsam solidarische Wirtschaft zu stärken.

Sehen Sie es als positives Zeichen, dass soziale Ökonomie mittlerweile im Trend ist?

Der Berliner Senat hat sich 2010 den Auftrag gegeben, solidarische und soziale Ökonomie zu fördern. Dabei geht es um viel Geld. Mit Phineo wurde ausgerechnet ein Think Tank von Bertelsmann beauftragt, zu ermitteln, was eigentlich solidarische und soziale Ökonomie ist. Das Problem dabei ist, dass hier zwei Begriffe willkürlich ­aneinandergereiht werden. Soziale Ökonomie ist ein Gummibegriff, unter den auch Start-ups fallen, die nicht viel mit solidarischer Ökonomie zu tun haben.

Aber gibt es nicht auch die Suche nach einer anderen Ökonomie?

Tatsächlich ist es im Mainstream angekommen, die Art des Wirtschaftens in Frage zu stellen. Begriffe wie solidarische Landwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Transition, Degrowth liegen im Trend. In Berlin endete kürzlich eine Crowdfunding-Kampagne für eine Food-Coop in Form eines Supermarkts auf 800 Quadratmetern.
Die Organisatoren beziehen sich auf ein Modell in New York, aber nicht auf die Konsumbewegung, die es durch die Arbeiterbewegung gab. Ihr Ziel ist gute Ernährung und nachhaltiger Konsum für Menschen mit geringem ­Einkommen.

Ist eine solche große Food-Coop eine Gefahr für Ihr Kollektiv?

Das wäre nur eine Konkurrenz, wenn sie in unserer Nähe eröffnen würde. In Berlin gibt es eine große konsumkritische Bewegung. Trotzdem bin ich skeptisch, ob sich das Projekt durchsetzen wird, weil es anders als in den USA eine gute Versorgung auch durch Supermärkte und starke Discounter gibt.