In Indien demonstrieren Hunderttausende gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz, das Muslime diskriminiert

Muslime unerwünscht

»Schließt euch uns an«, schreibt die queere Aktivistin Doel Rakshit auf ­Facebook. Sie ruft damit ihre Freundinnen und Freunde in Mumbai zu einer Demonstration auf. In Indien vergeht derzeit kaum ein Tag, an dem nicht ­gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz protestiert wird. Allein am vergangenen Wochenende gab es in Mumbai, Delhi und anderen Großstädten ­erneut mehrere Bürgerversammlungen und seit Sonntagnacht in Mumbai eine Sitzblockade. Zuvor hatten sich viele einem queerfeministischen Marsch angeschlossen. Menschen aus ganz Indien versammelten sich in den vergangenen Wochen in Mumbai vor Moscheen, an der Strandpromenade, in Slums wie Dharavi und auf dem Universitätscampus zu den größten ­Demonstrationen des Landes seit dem Amtsantritt von Premierminister ­Narendra Modi von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) im Jahr 2014.

Auslöser der Proteste war die Verabschiedung des Citizenship Amendment Act (CAA) am 12. Dezember. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz sieht vor, dass verfolgte religiöse Minderheiten aus den Nachbarländern Pakistan, Bangladesh und Afghanistan leichter die indische Staatsbürgerschaft erwerben können. Von der Einbürgerung ausgeschlossen sind allerdings Muslime, die in jenen Ländern die Mehrheit bilden. Das gilt auch für Angehörige der in Pakistan verfolgten islamischen Sekte Ahmadiyya und für Rohingya aus Myanmar. Die Gesetzesänderung widerspricht damit der indischen Verfassung, in der die Gleichheit vor dem Gesetz festgeschrieben ist.

Ende August hatten die Behörden im nordöstlichen Bundesstaat Assam, der unter anderem an Bhutan und Bangladesh grenzt, eine aktualisierte Ver­sion des Bürgerregisters, des National Register of Citizens (NRC), vorgestellt. Damit sollte geklärt werden, welche Einwohnerinnen und Einwohner Assams ausländisch sind und welche nicht. Da viele Menschen keine Geburtsurkunden oder andere wichtige Dokumente vorlegen konnten, befanden sich von den etwa 33 Millionen Einwohnern Assams schließlich 1,9 Millionen nicht im Register, darunter Tausende Muslime, denen damit gewissermaßen die indische Staatsbürgerschaft abgesprochen wurde, aber auch bengalische Hindus und viele Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen. Medienberichten zufolge werden bereits Abschiebe­lager gebaut für jene, die nicht ihre indische Staatsangehörigkeit nachweisen können und demnach kein Bleiberecht haben. Der Ausschluss zahlreicher Bürgerinnen und Bürger aus dem NRC und die Befürchtung, Assam könnte durch weitere illegale Zuwanderer gleich welcher Religionszugehörigkeit aus dem angrenzenden Bangladesh »seine Identität verlieren«, führten zu Widerstand in der Region.

In Assam verursachte die Verabschiedung des CAA zuerst Unruhen. Zeitweise wurden Schulen, Universitäten und Geschäfte geschlossen, Mobilfunk- und Internetverbindungen gesperrt, sogar der Flugverkehr wurde eingeschränkt. Von dort schwappte die Bewegung an die Universitäten über. An den muslimischen Universitäten Jamia Millia Islamia (JMI) in Neu-Delhi und der Aligarh Muslim University im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh protestierten Studierende gegen das CAA, es kam zu Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nachdem Bilder der Proteste verbreitet worden waren, regte sich Solidarität. An der JMI wird mittlerweile seit über drei Wochen protestiert. Mitte Dezember waren die dort Studierenden wegen der Unruhen vorzeitig in die Winterpause geschickt worden. »Die Polizei hat unsere Bibliothek zerstört«, sagt Sahil Ahmed, ein Student der JMI. Die Regierung fürchte sich vor gebildeten Menschen, sagt er. Der 25jährige und seine Kommilitonen sitzen mit ­Büchern auf dem Boden vor der Universität. Sie laden Passanten zum ­Lesen ein, ihr Motto lautet »#ReadForRevolution«.

Als Antwort auf die Polizeigewalt schlossen sich Mitte Dezember religionsübergreifend über 20 Hochschulen in ganz Indien dem Protest gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz an. Landesweite Massenproteste aus vielen Schichten der Gesellschaft waren die Folge. Muslime demonstrieren zusammen mit Hindus, Feministinnen und Linken. Bei Großdemonstrationen wurden Tausende Menschen festgenommen, die sich Versammlungsverboten widersetzt hatten. Darunter waren auch Oppositionelle wie der angesehene Gandhi-Biograph Ramachandra Guha. Vor allem Musliminnen und Muslime beklagen, dass in Indien behördliche Schikanen unter der Regierung Modi zugenommen hätten. Diese Meinung teilt auch Sahil Ahmed.

Am 20. November kündigte Indiens Innenminister Amit Shah (BJP) an, das umstrittene NRC auf ganz Indien auszuweiten. Das CAA ist ein weiterer wichtiger Teil der hindunationalistischen Politik der Regierung. Die Pläne der Regierung würden nicht nur Muslime diskriminieren, sagt Ahmed. »Dalits, Indigene, Frauen und Transpersonen sind ebenso betroffen«, so der Jurist – also alle, die in der Gesellschaft einen schweren Stand haben und denen nötige Dokumente wie eine Geburtsurkunde fehlen. Überraschend kam das CAA allerdings nicht. Es war bereits 2014 Bestandteil des Manifests der BJP, die bei der Parlamentswahl im vergangenen Frühjahr erneut eine deutliche Mehrheit errang.

Die Premierminister einiger Bundesstaaten haben inzwischen angekündigt, das Gesetz nicht anzuwenden. Kritik kam auch vom UN-Menschenrechtsbüro, das das Gesetz als »grundlegend diskriminierend« bezeichnet. Die indische Journalistin Arfa Khanum twitterte: »Die indische Verfassung ist tot« und »Indien ist nun offiziell ein hinduistischer Staat«. Mit dieser Sorge ist sie nicht allein. Menschenrechtler sehen die Gefahr, dass Indien immer mehr zu einem religiösen Staat wird. Neben der Schriftstellerin Arundhati Roy hat sich auch der Erzbischof von Mumbai, Oswald Gracias, kürzlich eingeschaltet. Er betonte, dass die Religionszugehörigkeit nie ein Kriterium für die Staatsbürgerschaft sein sollte, und warnte vor einer Polarisierung wegen religiöser Zugehörigkeit.
Modi hingegen verteidigt seine Politik. Bei einer Ansprache Anfang Januar betonte er, er wolle nichtmuslimische Minderheiten aus Pakistan beschützen. Unter den Befürwortern des Gesetzes sind vor allem Angehörige der regierenden Partei BJP und ihrer Studierendenorganisation Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad (ABVP), die ihre eigenen Proteste initiierte. Mit Zeitungsannoncen, Videos und dem Modi-Podcast »Mann Ki Baat« (Offene Aussprache) hat die Regierung begonnen, das CAA intensiv zu bewerben.

Die Regierung beschuldigt die Opposition, zu Gewalt angestiftet zu haben. Allerdings eskalierte die Situation besonders in den Bundesstaaten, die von BJP-Politikern regiert werden. Darunter sind Assam und Uttar Pradesh, wo es am meisten Todesopfer gab. Bei den Unruhen kamen nach Medien­berichten bislang mindestens 25 Menschen ums Leben. Das Thema dominierte wochenlang die Medien und lenkte davon ab, dass Indien mit steigenden Lebensmittelpreisen und ­einer schwächelnden Wirtschaft zu kämpfen hat.

Kurzzeitig hatte die Intensität der Proteste nachgelassen, nahm nach ­einem Angriff rechter Gruppen auf Studierende und Lehrende der Jawaharlal-Nehru-Universität am Sonntag in Delhi aber wieder zu. Zudem sind die Proteste origineller geworden. Frauen in Südindien drücken mit traditionellen Kreideverzierungen ihren Unmut aus, in Delhis Stadtteil Shaheen Bagh blockiert eine Frauengruppe mit einem Sit-in seit Wochen den Verkehr und feierte mit zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützern das neue Jahr. Am Freitag vergangener Woche, dem Geburtstag der 1897 verstorbenen Frauen­rechtlerin Savitribai Phule, protestierten queere Aktivistinnen und Aktivisten auf Indiens Straßen gegen das CAA.

Den Kritikerinnen und Kritikern des Gesetzes bleibt die Hoffnung, dass das Oberste Gericht dessen Rechtsgültigkeit noch verhindert. Am 22. Januar soll eine Anhörung stattfinden.