Eine neue Klassenpolitik soll der Linken aus ihrer Krise helfen

Findet die Klasse

Seite 2

Und auch heute gilt noch: Eine Linke, die diesen Namen wirklich verdient, muss die Interessen dieser Klasse ins Zentrum ihrer Politik stellen. Das ­bedeutet, dass man sich für diese Menschen interessieren muss. Nur wenn sie überzeugt und dann auch organisiert werden, kann man tatsächlich etwas verändern.
Die heutige Linke bezieht sich nicht mehr auf dieser Klasse, sondern besteht aus einem Milieu von Menschen, die sich aus zahlreichen verschiedenen Gründen als »links« verstehen. Viele von ihnen sind Akademiker. Sie sind zwar ernsthaft daran interessiert, liberale Grundsätze und die offene Gesellschaft zu verteidigen. Doch wenn es um konkrete Klassen­politik geht, lässt die Leidenschaft nach.

Der letzte Satz wird auf Widerspruch stoßen. Aber hier ist ein wenig mehr Ehrlichkeit nötig. Man ist natürlich prinzipiell für soziale Gleichheit, selbstverständlich. Aber es tangiert einen dann doch nicht auf dieselbe existentielle Art und Weise wie der Kampf ­gegen Diskriminierung oder gegen reaktionäre und rechte Einstellungen. In der Taz gibt es keine regelmäßige Kolumne, die den Erfahrungen und Problemen der Supermarktkassierer, der Putzkräfte und der Fernfahrer gewidmet ist. Und vielen, die bei »Unteilbar« mitgelaufen sind, fehlt vermutlich die Vorstellung davon, welchen Horror Leiharbeit, Prekarisierung, miese Renten, Hartz IV oder eine 40-Stunden-Woche in körperlich anstrengenden Berufen bedeuten.
Umgekehrt hat die Arbeiterklasse keinen besonderen Draht zu dem emanzipatorischen Programm, das im linken Milieu vertreten wird. Für diese Inhalte, für den Feminismus, für Transgenderrechte, den Kampf gegen Diskriminierung und so weiter, interessiert sich die Arbeiterklasse in demselben Maße wie der Rest der Bevölkerung: Ein Teil ist dagegen, ein Teil ist dafür, und dem vielleicht größten Teil ist es eher egal.

Natürlich gibt es viele gute Einwände gegen diese allzu schematische Dichotomie. In Wirklichkeit ist alles immer viel komplizierter. Überzeugte Linke sind nicht allesamt Akademiker – ganz und gar nicht. Auch studierte Links­liberale haben viele der Probleme, die man im Kapitalismus eben hat: schlechte Löhne, schlechte Jobs, hohe Mieten und so weiter. Und selbstverständlich sind große Teile der Arbeiterklasse ­migrantisch geprägt, manche sind LGBQT und allein deshalb an dem klassisch linken Thema der Minderheitenrechte interessiert – keine Frage.

Trotzdem sollte man der Versuchung, alles zu Tode zu differenzieren, widerstehen und sich der unangenehmen Wirklichkeit stellen. Entscheidend ist, hier nicht zu moralisieren oder Feindbilder aufzubauen. Wenn allen Linken die Neigung zur klassenübergreifenden gemeinsamen Politik bereits gemein wäre, gäbe es diese Probleme nicht.

Eine fortschrittliche Bewegung mit Massenbasis kann auch nicht aufgebaut werden, indem sich die einen den anderen unterordnen. An »Aufstehen« konnte man sehen, was geschieht, wenn eine sozialpopulistische Bewegung die kosmopolitischen Linken bewusst vor den Kopf stößt: nichts. Aber auch sich progressiv gebende Liberale, die sich nicht um die materiellen Interessen der Werktätigen scheren, braucht die Linke nicht. Für dieses Klientel gibt es schon eine Partei: die Grünen.

Wie kriegt man das also hin – eine starke Linke aufzubauen, die die Distanz zwischen den Gesellschaftsschichten überwinden kann? Eine Linke, die durch ihr bloßes politisches Gewicht der reaktionären Regression entgegen­wirken kann, die die kapitalistische Realität hervorbringt? Keine Ahnung. ­Sicher nicht, indem man sich dem »gesunden Volksempfinden« oder der Fremdenfeindlichkeit anbiedert. Aber durch laute, bunte und glitzernde Großdemonstrationen, wie sie »Unteilbar« regelmäßig veranstaltet, eben auch nicht.

 

Wie kann sich die Linke im neuen Jahrzehnt orientieren? Soll sie sich auf ­Sozialpolitik in den Parlamenten oder auf neue soziale Bewegungen mit Massenprotesten konzentrieren? Mit diesem Text beginnt eine neue Disko-Reihe.