Der deutsche Wald ist umkämpfter Besitz und mythischer Ort völkischer Ideologie

Mehr als lauter Bäume

Der Wald ist ein Wirtschaftsraum und ein Ort des Klassenkampfs. Er wird jedoch nicht nur materiell, sondern auch ideologisch in Besitz genommen.

Es sind nicht die dümmsten Leute, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, aber noch klügere sehen, was ein Wald mit den Bäumen macht. Gesellschaft, natürlich, schießt es in den Kopf. Denn kein Mensch kann einen Wald einfach nur als Wald sehen. Immer liegen die Metaphern darunter und darüber. Die Mythen und Bilder, und nicht zuletzt die Ideologien und die Propaganda. So ist selbst die Behauptung, der Wald sei ein Stück Natur, zugleich ein Irrtum und eine ideologische Phrase.

Man spricht in der Biologie von Waldgesellschaft in der Regel als einer Pflanzengesellschaft, die sich als bestimmtes Zusammenspiel von Flora unter bestimmten Bedingungen entwickelt. Solche natürlichen Waldgesellschaften bilden heutzutage eher die Ausnahme als die Regel. In Mitteleuropa geht man davon aus, dass gerade einmal ein Zehntel des Waldes noch Eigenschaften einer natürlichen Wald­gesellschaft hat. Damit kann man schon eine hübsche Nomenklatur einleiten: Auwald und Bruchwald, Eichenmischwälder, Buchenmischwälder, Birkenwälder, Tannenwälder, tropische Wälder, subtropische Wälder, boreale Wälder. Ein Wald ist erst wirklich ein Wald, wenn er Erzählung, Bild und Begriff geworden ist.

Umgekehrt besteht nicht alles, was Wald ist, auch aus Bäumen. Die Nazis hatten bekanntlich eine Vorliebe für einen »Wald aus Menschen«. Es gibt in mehreren Zusammenhängen einen »steinernen Wald«, einen Wald der Gräber, nicht zu verwechseln mit einem versteinerten Wald, wie es ihn bei bei el-Ma’ādī in Ägypten, im Norden von Arizona oder bei Chemnitz gibt. Im Schatten eines versteinerten Waldes konnte sich während der Großen ­Depression das Unheil zwischen Leslie Howard, Bette Davis und Humphrey ­Bogart abspielen, im Film »Der versteinerte Wald« von 1935 von Archie Mayo. Der titelgebende Wald, heißt es da einmal, sei ein Relikt einer anderen Welt, genau wie der Gangster und der Schriftsteller, letzte wahre Individua­listen. Und die Versteinerung ist nur im Tod aufzulösen. Der Wald ist ein Bild seiner Geschichte. Aber immer auch Bild seiner Betrachter. Das Spiegelbild derer, die ihn betreten oder nicht, die sich in ihm verirren, die ihn durchqueren. Und wenn der von Adalbert Stifter erfundene Herr Tiburius sich auf einer »Waldblöße« findet, so gehen wir wohl recht in der Annahme, dass auch in besagtem Herrn sich etwas öffnet. Der Wald bedeckt die Erde, ohne ihn kommt die Nacktheit der Welt zum Vorschein.

Ein Wald ist erst wirklich ein Wald, wenn er Erzählung, Bild und Begriff geworden ist.

Wie es bei Mythen der Fall zu sein pflegt, so steckt auch im Wald allgemein, im deutschen Wald insbesondere, ein Rest von Wirklichkeit. Es handelt sich in der Tat um Reste, denn wir haben es einerseits mit einem Wirtschaftsraum zu tun, Holz wird hier geschlagen, Wild gejagt, vielleicht lässt sich auch einmal ein echter Waldpilz finden. Andererseits handelt es sich um ein Erholungsgebiet. Hier kann der gestresste Stadtmensch durchatmen und nach Herzenslust romantisch glotzen oder aber pädagogisch wirken, je nachdem. Ein Wald ist ein Charakteristikum, ein nicht nur topographisches Merkmal von »Heimat«. Außerdem hat der Wald eine Schutzfunktion, zum Beispiel gegen Bodenerosion, gegen Lawinen, gegen Austrocknung. Schließlich hat der Wald eine sowohl mikro- als auch makroklimatische Aufgabe. Er wird hier und da als Lunge bezeichnet, er soll gefälligst Sauerstoff produzieren.

Alle Aufgaben sind in sich erheblich ambivalent. Der Wirtschaftsraum wird, nach kapitalistischer Logik, nicht benutzt, sondern verbraucht; die Erholungsfunktion verwandelt den Wald in einen halbtoten Erlebnispark für die Kleinbürgerfamilie, was etlichen Waldbewohnern entschieden zu viel ist. Sich mit dem Wald als »Heimat« zu verbinden, bedeutet auch, ein Hinterwäldlertum anzunehmen. Der normale Wald, und ganz besonders der deutsche, ist eine Brücke, eine Transformation: Ein ganz bestimmtes Stadium der Verwandlung von Natur in Kultur und manchmal umgekehrt. Im Wald, so scheint es, ist dieser Transformationsprozess noch unentschieden und offen. Jederzeit kann hier, was das Subjekt anbelangt, die Natur der Kultur ein Schnippchen schlagen, und jederzeit kann man hier Zeuge dessen werden, was Kultur der Natur antut.

Den Wald besitzen

Es ist die Lesbarkeit des Waldes, die ihn zum Transformationsmittel zwischen Natur und Kultur macht. Oder umgekehrt: Das Lesen des Waldes ist eine wesentliche Eigenschaft der Zivilisierung. Denn gleich mit der Möglichkeit einer Lesbarkeit des Waldes (unter anderem als Versicherung, jederzeit aus ihm wieder herauszufinden) bricht das Waldverbot in die Biographien und Kulturen. Diesen Wald darfst du nicht betreten, dieser Wald ist gefährlich, in diesem Wald steckt ein Geheimnis – so beginnen die Geschichten. So führen die schrecklich armen Eltern Hänsel und Gretel in den Wald (siehe Seite 5), auf dass es sei, als wären sie nie geboren. Aber die Begegnung mit der Hexe im Wald, wo er am tiefsten ist, führt auch zur Wiedergeburt. Der Wald gehört der Natur und der Magie.

Im Wald verbirgt sich und überlebt, was von Christentum und Kapitalismus nicht vollständig verdrängt werden konnte, unter anderem jener Vertreter der heftigen Gerechtigkeit, den die einen einen Räuber und die anderen einen Helden nennen. Er ist allerdings nicht immer so edel wie Robin Hood, und vielleicht hat ja auch der über seine Legenden gelacht. Denn in Wahrheit hat er nicht das Prinzip, nur die Praxis angegriffen, nach der der Wald keineswegs allen oder der Bevölkerung gehört, sondern dem Fürsten. Zu seinem Reichtum, zu seinem Schutz, und nicht zuletzt zu seinem Vergnügen. Nur ist eben die Herrschaft über einen Wald auch mit größter Gewalt nicht vollständig zu sichern. Die Verfügung über den Wald ist demnach zugleich der Höhepunkt und die Grenze der fürstlichen Macht. Er begegnet hier seinen beiden schwierigsten Objekten, dem »Volk« und der Magie beziehungsweise dem Rebellen und der Zauberei.

Um den Wald zu besitzen, benötigt der Fürst zwei mächtige, aber unzuverlässige Verbündete: den Klerus und die Kaufleute. Deren Macht wiederum entwickelt sich vor allem aus einer gewissen Beweglichkeit. Ihre Macht ist geringer, reicht aber weiter als die des Fürsten. Das heißt, sie müssen den Wald und dann: die Wälder durchqueren. Während der Wald für den Fürsten allmählich zu einer höchst prekären Form des absoluten (und eben doch nicht absoluten) Besitzes wird, erweist er sich für die dynamischeren Teile ­einer feudalen Gesellschaft oft als Falle. Hier sammelt sich alles, was von der wahren und wirklichen Ordnung abgefallen ist. Die Wälder werden kritisch gegen Macht, gegen Religion, gegen Besitz.

Die Dialektik des Waldbesitzes macht es also notwendig, aus dem ursprüng­lichen Totem und Tabu die Märchen und Mythen zu entwickeln, die den anarchischen Spiegel wieder in die Ordnung integrieren. Diese können dabei die ursprüngliche Ambivalenz nur fortsetzen in der bewährten Form der Kultivierung als Spaltung. Für den Helden und die Heldin wird es fortan den guten und den bösen Wald geben. Die Geister, die in ihm gerufen werden, haben nicht zuletzt die Aufgabe, mit düsterem Schleier zu umgeben, was am Ursprung lag: die Frage nach dem Besitz. So bestraft der Wald mal den Fürsten, der nicht gerecht regiert, und mal das Volk, das sich zu sehr gegen seine Herrschaft auflehnt.

Im Wald verbirgt sich und überlebt, was von Christentum und Kapitalismus nicht vollständig verdrängt werden konnte.

All das ändert sich fundamental mit der Aufklärung und dem Absolutismus. Der Fürst ist nämlich nun zugleich der Staat, und die Lesbarkeit des Waldes zugleich sein Urteil. Und gar nicht so paradoxerweise beginnt zugleich eine Privatisierung des Waldes. Am Ende dieses Prozesses gibt es auf die Frage nach dem Besitz des Waldes zwei Antworten: Staatsbesitz und Privatbesitz. Aber das scheint viel einfacher, als es in Wahrheit ist. Die Pacht wird als dritte Form das Instrument des Großbürgertums, ihren Besitzanteil am mehr oder weniger ewigen Wald zu erlangen, während das Kleinbürgertum dazu auf Nationalisierung und romantische Öffnung angewiesen ist. Das Kleinbürgertum eignet sich den Wald vor allem ästhetisch an. Eine der Folgen davon ist, dass der Wald nach Besitz, Ausbeutung und Gesetz von neuen Gespenstern besiedelt wird. Die Reste von Magie und Volk, von Nichtbesitz, Nichtmacht, Nichtreligion, werden gesammelt und kontaminiert mit der doppelten Sehnsucht des Kleinbürgertums, der nach Befreiung und der nach Unterdrückung.

Die Frage »Wem gehört der Wald?« stürzt das längst schon dubiose Gleichgewicht von Kapitalismus und Demokratie – die allgemeine Zugänglichkeit des Waldes, begrenzt durch die Inter­essen der zu Kapitalisten gewordenen Feudalherren, gehörte einst zur Vereinbarung des Wohlfahrtsstaats – in eine unterschwellige Krise. Zumindest die Erholungsfunktion des Waldes gerät von beiden Seiten unter Druck, von Seiten der inneren Landnahme des späten Kapitalismus, der kein nicht­kapitalisiertes Areal – als wäre es eine insulare Erinnerung daran, dass die Welt nicht vollständig in Besitz und Bürokratie verwandelt werden kann – dulden mag, und von Seiten der Ökologie, die dem Wald die Aufgabe der Weltenrettung überträgt. So verfällt der Wald in einen Zustand der permanenten Agonie; hier muss wieder ein Stück dran glauben, weil eine ländliche Gemeinde in Finanznot dringend ein Industriegebiet-Süd braucht, dort macht ihm der saure Regen zu schaffen, hier brennt es und dort kommt der Borkenkäfer. Der Wald, der einst als Gesundbrunnen des Bürgertums seine Bestimmung fand, ist nun das umfassende Symbol von Krankheit und Gefährdung. Und auch darin ist er dazu verdammt, den Zustand der Klasse widerzuspiegeln, die ihn nach alledem als Patienten in Besitz nimmt. Während ihn die einen zu retten versuchen, durchstreifen ihn andere bestenfalls mit Paintball-Waffen, um das Kriegerische in sich zu befreien; wieder andere richten ­einen Waldkindergarten ein, und kaum ein Fernsehabend vergeht ohne Leichenfund im Wald, als müsste dieser neben dem Industrie- auch noch den Kulturmüll aufnehmen.

Den Wald moralisieren

Wie andere Formen von »Heimat« wird auch der Wald zum inneren Rückzugs- und Restaurationsgebiet des Kleinbürgertums und spiegelt bald auch in seiner äußeren Form dessen ­politischen und kulturellen Zustand. Gegen die Ausbeutung, gegen die Macht und gegen die dekadente Vergnügung der Oberschicht kann das Kleinbürgertum nur noch seine letzte Waffe einsetzen: die Moralisierung.

Mit jeder inneren Krise des deutschen Kleinbürgertums änderte sich auch die Erscheinung seines Waldes. So ist der deutsche Wald nicht bloß ein völkisches Symbol geworden, das nach Verwurzelung und Reinheit verlangt, ein Kurzschluss mit der verlorenen Magie, die nur noch als Maske von Sentimentalität und Brutalität aufscheint, oder als Aufmarsch- und Marschliedbeute. Nein, die Faschisierung des deutschen Waldes geht ­tiefer.

Schon die Bourgeoisie war hierzulande, jedenfalls im Vergleich mit anderen Weltgegenden, was den Wald anbelangt, ein wenig zu spät gekommen. Landvolk und Adel, Staat und Kirche klammerten sich stärker an den Besitz, so dass sich neue Allianzen und neue Verhältnisse herausbildeten, deren nicht einmal letzte Absurditäten in die Staaten des »real existierenden Sozialismus« und zu den Jagdgepflogenheiten ihrer Führungskader reichen. Noch später freilich kam das Kleinbürgertum zum Wald, das sich hier nur verlorene Natur und geopferte »Identität« versprechen konnte. Da es bei der materiellen Inbesitznahme weitgehend leer ausgegangen war, ging es bei der ideologischen Inbesitznahme umso emsiger vor. So musste auch der Wald, der den Leuten nicht gehören konnte, dem »Volk«, und zwar dem eigenen, gehören. Das war ein mythologischer Kraftakt, denn aus dem Wald kommen schließlich noch das Fremde und die Fremden; forestieri werden in italienischen Gegenden noch die Fremden genannt. Wenn aber der Wald das eingelagerte Fremde, eine vage Form der ­Alternative ist, dann zerbricht auch dieser Anspruch zwischen dem materiellen Besitz an einem Stück Wildnis und dem ideologischen Besitz an einer sozialen Metapher. Wieder wird der Wald zu einem Kampfplatz der Ansprüche und Erwartungen, dessen Rationalisierungen und Überhöhungen fast vollkommen verbergen, dass in ihnen immer noch ein Klassenkampf ausgeführt wird, wenngleich als düsteres Schattenspiel.

Den Wald deuten

Mit dem Wald, am Wald und durch den Wald wird Geschichte geschrieben. Denn der Wald ist nicht nur ein meta-mythischer Raum, sondern immer auch ein strategischer. Der Wald muss verteidigt werden, er muss gereinigt werden von Räubern und Rebellen, von Waldmenschen und Zivilisationskranken, und er muss kartographiert werden. Jeder Wald ist ein Labyrinth, der am menschlichen Subjekt die Grenzen seiner Lesbarkeit auslotet. Denn er ist nicht nur eine Gesellschaft von Pflanzen, beherrscht von den mächtigen Bäumen, sondern auch selbst ein Lebewesen. Ein tückisch ausgebreitetes Subjekt, das verführt und verdammt. Daher ist ein Imperium, das endlose Wälder in sich trägt, auf eine umfassende Administration angewiesen.

Ursprünglich war der Wald idealer Lebensraum für Jäger und Sammler, und im großen zivilisationsgeschichtlichen Metakonflikt, nämlich dem zwischen nomadischer und seßhafter Lebensform, bot der Wald immer wieder, wenn auch sozusagen minoritär, eine dritte Möglichkeit: den Rückzug. Waldmenschen sind offensichtlich solche, die sich aus diesem Menschheitskonflikt heraushalten und weder ganz der einen noch ganz der anderen Art zugehören. Aber damit beginnt auch schon die Geschichte der Zivilisationsflucht, nur im Wald können Menschen überleben, vielleicht, die sich dem Fortschritt verweigern wollen. Holzfäller gegen Naturmenschen, brand­rodende Besitzer gegen freie Menschen in reicher Natur, das sind die Bilder, die sich schließlich zu Mythen verdichten: der Waldmensch als Zwischenmensch, der Wildtöter, Tarzan, Wilderer, der Waldbauernbub, der zum Dichter wird.

Den Wald zähmen

Um ihn zu erhalten, musste der Wald rationalisiert, mystifiziert, konserviert und historisiert werden. Seine große Geschichte begleitet nicht nur die Verhältnisse vom Feudalismus zum Neo­liberalismus – und lässt, bei näherem Hinsehen, erkennen, wie viel vom Feudalismus noch im Neoliberalismus eingelagert ist – und die Geistesgeschichte von Magie über Religion bis zu Aufklärung, Romantik und Biedermeier, sondern auch eine Moralgeschichte: Immer steht da der gute Wald gegen den bösen Wald, die Erlösung gegen die Verdammung.

Der Wald ist also sowohl als Geburtsraum wie auch als Todesraum zu betrachten. Will man vielleicht in den Wald gehen, um wiedergeboren zu werden, und muss man hinein, um dem Tod zu begegnen? Es gibt jedenfalls keine Heldenreise, und also kein bürgerliches »Erwachsenwerden«, ohne die Durchquerung des Waldes, den man, wie in so vielen Grimm-Märchen, bis zu einem Ursprungsort durchqueren muss; und was dort zu erfahren ist, das ist die Unterscheidung: die Auflösung der Symbiose, der Einheit mit ­einem Mutterleib, verlangt nach der Unterscheidung, primär jener zwischen Leben und Tod. Gerade der Wald erklärt ihre Vieldeutigkeit: Was hier lebt und was tot ist, was Einzelnes und Gesamtes, was Aktion und was Echo, schließlich auch, was Wirklichkeit und was Illusion ist, das kann man hier so gut lernen wie in Zweifel ziehen.

So wäre, um den deutschen Wald aufzuklären, das Historische, das Politische, das Ökologische und das Psychische zusammen zu denken. Tatsächlich spiegelt sich in dieser Geschichte, wenngleich in immer neuen Varianten, ein Kampf um Leben und Tod. Den Wald zu verschließen, das war stets eine Todesdrohung der Macht, in den Wald einzudringen eine Metapher des Lebens, der Fruchtbarkeit, in Krisensituationen auch eine der Vergewaltigung. Was der Wald hergibt, das ist das Leben, und was seine Verweigerung ­bedeutet, ist der Tod.