In den Ländern Osteuropas ist die Lebenserwartung seit 1989 gestiegen

Länger leben ohne Zukunft

In vielen Ländern Osteuropas ist die Lebenserwartung seit dem Ende des Realsozialismus gestiegen. Doch Perspektivlosigkeit treibt vor allem junge Menschen weiterhin in westliche Länder.

Es grenzt an ein Wunder, was den Menschen in Osteuropa in den vergangenen drei Jahrzehnten widerfahren sein soll. Wenn man den Statistiken der Weltbank Glauben schenken mag, dann hat sich ihr Leben in fast allen Bereichen verbessert. In Polen, Estland oder Rumänen ist das Bruttosozialprodukt seit 1990 um bis zu 800 Prozent gestiegen; Bildung, Gesundheitsvorsorge und die Infrastruktur haben sich enorm entwickelt. Vor allem in einer Hinsicht profitieren die Menschen von diesen Veränderungen: Sie leben deutlich länger. So stieg die Lebenserwartung in der Slowakei um acht Jahre, in Polen um ­sieben und in Rumänien um fast sechs Jahre.

»Das ist das goldene Zeitalter für die Region«, zitierte der Guardian kürzlich den polnischen Wirtschaftswissenschaftler Marcin Piatkowski. »Die ganze Region ist erfolgreich gewesen, was sich darin zeigt, dass kein Bulgare oder Rumäne oder Pole jemals besser gelebt hat als jetzt, sowohl absolut als auch im Vergleich mit dem Westen.«

Tatsächlich spricht vieles für eine Erfolgsgeschichte im Osten, wenn man den statistischen Angaben folgt. Insbesondere nach der Jahrtausendwende wies Osteuropa erstaunliche Wachstumszahlen auf, die zumeist deutlich über jenen der westlichen EU-Mitglieder lagen. Polen und die baltischen Republiken galten als »Tigerstaaten«, denen in einer verblüffend kurzen Zeit der Anschluss an den wohlhabenden Westen zu gelingen schien.

Mittlerweile arbeitet rund ein Viertel der erwerbsfähigen rumänischen Bevölkerung im westlichen Ausland, darunter besonders viele Fachkräfte.

Es gibt jedoch auch Zahlen, die diese Erfolgsgeschichte zumindest relativieren. Vielen erscheint das Leben in den osteuropäischen Ländern perspektivlos, denn anders ist es kaum zu erklären, dass so viele Menschen diese Region verlassen. Nach einem im vergangenen Jahr ebenfalls von der Weltbank veröffentlichten Bericht erlebt Rumänien einen geradezu dramatischen Bevölkerungsrückgang. Ende der achtziger Jahre lebten noch rund 23,5 Millionen Menschen in dem Land, inzwischen sind es rund vier Millionen weniger. Bulga­rien verlor im selben Zeitraum rund 19 Prozent seiner Einwohner, Lettlands Bevölkerung verringerte sich sogar um 27 Prozent. Schätzungsweise zwölf bis 15 Millionen Osteuropäerinnen und Osteuropäer haben seit 1990 ihr Herkunftsland verlassen. Laut einer Prognose der Uno liegen die bis 2050 am schnellsten schrumpfenden Länder der Welt allesamt in Osteuropa.

Das »goldene Zeitalter« gilt offensichtlich nicht für alle. Wer jung und gut ausgebildet ist, sucht sein Glück anderswo. Mittlerweile arbeitet rund ein Viertel der erwerbsfähigen rumänischen Bevölkerung im westlichen Ausland, darunter besonders viele Fachkräfte. Insgesamt sind mehr als 14 000 rumänische Ärzte im Ausland tätig, wie die Weltbank dokumentiert – was einem Drittel aller Ärzte des Landes entspricht. Ein wesentliches Motiv für die Migration sind schlechte Löhne. Assistenzärzte verdienen in Rumänien weniger als 300 Euro monatlich, in Serbien kommt ein Spezialist auf maximal 900 Euro. In Kroatien beträgt das Durchschnittseinkommen eines Arztes etwa 680 Euro. Die massenhafte Migration trägt aber auch dazu bei, dass die An­gehörigen zu Hause besser leben können. Allein aus Deutschland überwiesen ­rumänische Arbeitsmigranten im vergangenen Jahr rund 400 Millionen Euro an ihre Familien.

 

Die Abwanderung von Ärzten ist nicht das einzige Problem des osteuropäischen Arbeitsmarkts. Seit dem EU-Beitritt haben Tausende Pflegekräfte ­Ungarn und Polen verlassen, in den meisten anderen osteuropäischen Staaten ist die Lage ähnlich. »Sollte sich an den Zuständen nichts ändern, droht Osteuropa ein medizinisches Desaster«, kommentierte das Ärzteblatt bereits vor drei Jahren. Seitdem hat sich nicht viel verändert.

Die prekären Bedingungen schlagen sich auch in der Lebenserwartung nieder. Global betrachtet ist die Lebenswartung seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts um fast 50 Prozent gestiegen. In Westeuropa liegt sie nach Angaben der Weltgesundheitsbehörde (WHO) durchschnittlich bei rund 84 Jahren, in Osteuropa hingegen ist sie deutlich ­geringer: Dort beträgt sie derzeit trotz der Steigerung der letzten Zeit rund 75 Jahre.

Innerhalb der Region weist Rumänien mit die schlechtesten Werte auf. Nur in der Republik Moldau und in Bulgarien liegen sie noch deutlich niedriger. Ein Grund dafür ist die miserable Situation, mit der Rumänien zu kämpfen hat. Denn schon einmal wurde dort ein »goldenes Zeitalter« ausgerufen, das vor 30 Jahren, am 25. Dezember 1989, ein abruptes Ende fand. An diesem Tag wurde der »Erlöser der Erde« und »Gigant der Neuzeit«, wie sich der damalige rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu unter anderem titulierte, zusammen mit seiner Ehefrau hingerichtet.

Ceaușescu hatte in den sechziger Jahren ein ehrgeiziges Industrialisierungsprogramm initiiert, das jedoch weitgehend scheiterte. Um die dafür im Westen aufgenommenen Schulden abzuzahlen, verordnete er der Bevölkerung ein rigoroses Sparprogramm. Weil die Industriegüter wegen ihrer schlechten Qualität im Ausland kaum Abnehmer fanden, wurden vor allem Nahrungsmittel exportiert. Die Folge war eine extreme Mangelwirtschaft, in der selbst die notwendigsten Lebensmittel zu Luxusgütern wurden. Angesichts der weit verbreiteten Unter­ernährung empfahl der Präsident der Bevölkerung, die Ernährung auf »Wurzeln und Beeren« umzustellen, wie der Spiegel damals berichtete. Zudem fehlten Devisen für die Energieversorgung, so dass selbst in den strengen ­rumänischen Wintern Wohnungen nur für sechs Stunden am Tag auf maximal zwölf Grad beheizt werden konnten.

Zugleich verfolgte die Regierung eine expansive Bevölkerungspolitik, um die Bedeutung des Landes zu steigern. Jede Rumänin sollte mindestens vier Kinder bekommen, Abtreibung war unter Androhung drakonischer Strafen verboten. Nach dem Ende der Ära Ceaușescu gingen Bilder von Tausenden völlig verwahrlosten Kindern um die Welt, die ohne jegliche Betreuung in Pflege- und Waisenheimen lebten. Viele Eltern setzten ihre Kinder aus, weil sie für ihren Unterhalt nicht mehr aufkommen konnten. Die Kindersterblichkeit in Rumänien gehörte zu den höchsten der Welt. Die durchschnittliche Lebenswartung betrug rund 69 Jahre, in manchen Berufen und Regionen lag sie noch deutlich niedriger. Angesichts der finsteren Vergangenheit erscheint die Gegenwart daher vielleicht nicht golden, aber doch zumindest in einem etwas helleren Licht.