Linke Antisemitismuskritik sollte über die von den OSZE-Staaten verwendete ­Arbeitsdefintion hinausweisen

Jenseits der Staatsraison

Eine linke Antisemitismuskritik muss über die von den OSZE-Staaten verwendete Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) hinausweisen.
Disko Von

Die Debatte über Antisemitismus in Deutschland ist wieder einmal eine Debatte über die Debatte, nicht über Antisemitismus. Simon Castle warf dem Soziologen Peter Ullrich vor, Antisemitismus zu verharmlosen (Jungle World 46/2019). Ullrich hatte im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Organisation Medico International ein Gutachten über die in der internationalen Politik als state of the art gehandelte Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) vorgelegt.

Mathias Berek sagte bereits das Nötige zur inhaltsleeren und moralisierenden Art zu diskutieren (Jungle World 49/2019). Berek versuchte zu Recht die Diskussion über Antisemitismus aus den so beliebten Feind-Freund-­Bestimmungen sich befehdender Fraktionen der Antisemitismusforschung hinauszuführen. Richtig ist auch seine Schlussfolgerung, die »Kritik am Antisemi­tismus muss von emanzipatorischen Prinzipien ausgehen oder sie ist keine«. Freilich sagt Berek nicht allzu genau, wie eine Antisemitis­muskritik im emanzipatorischen Sinne aussehen müsse. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitsdefinition der IHRA ist diese Frage von zentraler Bedeutung.

Die IHRA ist eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Einrichtung, die Regierungen und Experten zusammenbringt mit dem Ziel, die Aufklärung, die Forschung und das Erinnern im ­Bereich des Holocaust weltweit zu fördern und voranzutreiben. Die IHRA hat 32 Mitgliedsländer, zwei Partnerländer und acht Beobachterstaaten. Doch bestätigt die hohe internationale Anerkennung schon die Gültigkeit der Arbeitsdefinition? Ist diese schon deshalb emanzipatorisch, weil eine Reihe von Staaten sie befürworten? Wohl eher nicht, wenn man unter Emanzipation die Kritik gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse versteht, zu der selbstverständlich auch eine Kritik von Staat und Kapital gehört.

Diesen Anspruch verfolgt die knapp gehaltene Arbeitsdefinition der IHRA selbstverständlich nicht, ein Verweis auf gesellschaftliche Ursprünge des Antisemitismus fehlt. Sie beschreibt Antisemitismus vor allem anhand von elf eklektisch wirkenden Beispielen von Erscheinungsformen des Antisemitismus. Die Arbeitsdefinition besagt, dass diese Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt; gleichwohl fällt auf, dass sieben dieser Beispiele Bezug auf den Staat Israel nehmen. So inkriminiert einer »die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird«.

Schon angesichts der Tatsache, dass Judenfeindschaft vom christlichen Antijudaismus bis zum modernen Antisemitismus Jahrtausende ohne den heutigen Nationalstaat Israel auskam, ist die ­Fixierung auf diesen erklärungsbedürftig. Liegt es daran, dass bestimmte ­Erscheinungsformen des Antisemitismus, in dem Fall der israelbezogene, zur Zeit der Erstellungung des Dokuments als relevanter erachtet wurden als andere? Dann wäre die Frage, inwiefern diese Definition auch gegenwärtigen Herausforderungen genügt. Liegt der starke Fokus daran, dass staatliche Interessen auf der Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen als von größerem Belang erachtet werden? Während die internationale Politik mit ihren Formel- und Protokollerklärungen nicht Gegenstand von Ullrichs Gutachten war, sind seine Verweise auf Defizite und Widersprüche in der Arbeits­definition berechtigt.

Als gesellschaftliches Phänomen tritt Antisemitismus höchst unterschiedlich auf. Eine explizit herrschaftskritische Bestimmung von Antisemitismus würde den Rahmen einer knappen handlungsleitenden Definition sprengen, wie sie die IHRA für die Arbeit von Behörden und Nichtregierungsorga­nisationen vorgelegt hat. In ihrem Rahmen verbleibt Ullrich explizit. Er schlägt eine Weiterentwicklung und Verbesserung der IHRA-Definition vor, die zur praktischen Bewertung von antisemitischen Handlungen beitragen soll. Die zentralen Elemente, wie sie in Form von linker Herrschafts­kritik längst bestehen, bleiben außen vor. Damit weist er hinsichtlich der emanzipatorischen Grundlagen der Erkenntnis des Antisemitismus – also der Bestimmung seines gesellschaftlichen Gehalts – eine Leerstelle auf.

In dieser Bestimmung träfen sich Methode und Gegenstand einer emanzipatorischen Kritik des Antisemitismus. Im Kern ist Antisemitismus immer ein Herrschaftsmittel. Dieses Herrschaftsmittel kann man in zwei sich ergänzenden Weisen interpretieren – als Ablenkung von Klassenkämpfen einerseits und als konformistische Revolte gegen die Herrschaft des Kapitals andererseits. Antisemitismus bietet einen den herrschenden Verhältnissen konformen Ersatz für die Befreiung von der Herrschaft des Kapitals. Form und Inhalt des Antisemitismus entspringen selbst der kapitalistischen Gesellschaft. Es kann daher kein Ende des Antisemitismus ohne ein Ende des Kapitalismus geben.

 

Während Marx und Engels den Judenhass als Relikt des sterbenden Feudalismus abschrieben, erlangte der Antisemitismus – darin besteht nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Dialektik der Aufklärung – in der kapi­talistischen Moderne eine bisher nicht erreichte totalitäre Qualität. Er trat als Rationa­lisierung der Gewalt auf, er vereinte unvereinbare Widersprüche, indem er Juden zugleich für Kapitalismus und Kommunismus ­verantwortlich machte, er vermochte es, aus­gehend vom christlichen Antijudaismus, jeden ­gesellschaftlichen Widerspruch auf eine »jüdische Weltverschwörung« zurückzuführen. Diese Ideologie ließ sich für viele Zwecke einsetzen, sei es zur Verteidigung der untergegangenen Tradition, sei es für den technologisch-rationalen Fortschritt. Anti­semitismus macht sich aus spezifischen historischen Gründen am Bild des ­Juden fest, als soziales Phänomen ist er eine Reaktion auf die bestehende ­Gesellschaftsordnung. Schon deshalb können wohlmeinende Pädagogik und deutsch-israelischer Jugendaustausch nie mehr als Symptome bekämpfen. Ausgehend von einem emanzipatorisch-herrschaftskritischen ­Anspruch hilft letztlich nur die grundlegende Änderung der Gesellschaft.

Als soziales Phänomen spielt der herrschaftsstabilisierende Charakter des Antisemitismus eine wesentliche Rolle. Herrschaftsstabilisierend ist er dabei nicht unbedingt in dem Sinne, dass die herrschende Klasse selbst subjektiv antisemitisch sein und Antisemitismus fördern müsste – im progressiven Neoliberalismus ist meist sogar gerade das Gegenteil der Fall –, sondern vielmehr in dem, dass Ausbeutung und Unterdrückung bestehen bleiben.

Diese radikale Analyse des Antisemitismus unterscheidet sich maßgeblich von der staatstragend-oberflächlichen Sichtweise der IHRA-Definition. Die Linke kann für ihre Interpretation Wahrheit beanspruchen, weil sie – prinzipiell – vom universellen Emanzipationsinteresse getragen ist, weil sie über die überlegene, der Wirklichkeit angemessene Theorie und politische Perspek­tive verfügt und die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und damit auch den Antisemitismus abschaffen will. Linke können und müssen sie über den bürgerlichen Subjektivismus hinausgehen. Denn dieser kann im Antisemitismus nicht mehr als einen individuellen Defekt sehen, ihn psychologisieren und pädagogisieren. Ein subjektivistischer Zugang kann die gesellschaftliche Dimension nicht erfassen und folglich auch nicht begreifen. Ein solcher inhärenter Subjektivismus ist ein ­Defizit der IHRA-Definition, das Ullrich nicht benennt.

Antisemitismuskritik als Herrschaftskritik muss hingegen an den Kern ­linker Kritik der Klassengesellschaft erinnern. Emanzipation heißt nach Marx »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Bis die Umwälzung der Eigentumsordnung stattfindet, ist es Aufgabe der Linken, im Kampf gegen den Antisemitismus an der Seite von Jüdinnen und Juden zu stehen, in letzter Konsequenz damit »Auschwitz nicht sich wiederhole« (Adorno). Punkt. Die Antwort auf den Antisemitismus an sich ist jedoch ­redundant: Sie lautet wiederum »alle Verhältnisse umzuwerfen«.

Für die Praxis von Behörden und Nichtregierungsorganisationen sind diese Überlegungen nur bedingt tauglich. Den Bedürfnissen solcher Insti­tutionen jedoch soll die IHRA-Definition entgegenkommen. Deshalb ist Peter Ullrichs Vorschlag zur Überarbeitung der Definition im Hinblick auf anti­semitische Vorfälle zu begrüßen. Es wäre eine Abkehr von Bekenntniszwang und Innerlichkeit. Wissenschaft wie linker Debatte würde dieser Schritt guttun.