Linke Antisemitismuskritik sollte über die von den OSZE-Staaten verwendete ­Arbeitsdefintion hinausweisen

Jenseits der Staatsraison

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Während Marx und Engels den Judenhass als Relikt des sterbenden Feudalismus abschrieben, erlangte der Antisemitismus – darin besteht nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Dialektik der Aufklärung – in der kapi­talistischen Moderne eine bisher nicht erreichte totalitäre Qualität. Er trat als Rationa­lisierung der Gewalt auf, er vereinte unvereinbare Widersprüche, indem er Juden zugleich für Kapitalismus und Kommunismus ­verantwortlich machte, er vermochte es, aus­gehend vom christlichen Antijudaismus, jeden ­gesellschaftlichen Widerspruch auf eine »jüdische Weltverschwörung« zurückzuführen. Diese Ideologie ließ sich für viele Zwecke einsetzen, sei es zur Verteidigung der untergegangenen Tradition, sei es für den technologisch-rationalen Fortschritt. Anti­semitismus macht sich aus spezifischen historischen Gründen am Bild des ­Juden fest, als soziales Phänomen ist er eine Reaktion auf die bestehende ­Gesellschaftsordnung. Schon deshalb können wohlmeinende Pädagogik und deutsch-israelischer Jugendaustausch nie mehr als Symptome bekämpfen. Ausgehend von einem emanzipatorisch-herrschaftskritischen ­Anspruch hilft letztlich nur die grundlegende Änderung der Gesellschaft.

Als soziales Phänomen spielt der herrschaftsstabilisierende Charakter des Antisemitismus eine wesentliche Rolle. Herrschaftsstabilisierend ist er dabei nicht unbedingt in dem Sinne, dass die herrschende Klasse selbst subjektiv antisemitisch sein und Antisemitismus fördern müsste – im progressiven Neoliberalismus ist meist sogar gerade das Gegenteil der Fall –, sondern vielmehr in dem, dass Ausbeutung und Unterdrückung bestehen bleiben.

Diese radikale Analyse des Antisemitismus unterscheidet sich maßgeblich von der staatstragend-oberflächlichen Sichtweise der IHRA-Definition. Die Linke kann für ihre Interpretation Wahrheit beanspruchen, weil sie – prinzipiell – vom universellen Emanzipationsinteresse getragen ist, weil sie über die überlegene, der Wirklichkeit angemessene Theorie und politische Perspek­tive verfügt und die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und damit auch den Antisemitismus abschaffen will. Linke können und müssen sie über den bürgerlichen Subjektivismus hinausgehen. Denn dieser kann im Antisemitismus nicht mehr als einen individuellen Defekt sehen, ihn psychologisieren und pädagogisieren. Ein subjektivistischer Zugang kann die gesellschaftliche Dimension nicht erfassen und folglich auch nicht begreifen. Ein solcher inhärenter Subjektivismus ist ein ­Defizit der IHRA-Definition, das Ullrich nicht benennt.

Antisemitismuskritik als Herrschaftskritik muss hingegen an den Kern ­linker Kritik der Klassengesellschaft erinnern. Emanzipation heißt nach Marx »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Bis die Umwälzung der Eigentumsordnung stattfindet, ist es Aufgabe der Linken, im Kampf gegen den Antisemitismus an der Seite von Jüdinnen und Juden zu stehen, in letzter Konsequenz damit »Auschwitz nicht sich wiederhole« (Adorno). Punkt. Die Antwort auf den Antisemitismus an sich ist jedoch ­redundant: Sie lautet wiederum »alle Verhältnisse umzuwerfen«.

Für die Praxis von Behörden und Nichtregierungsorganisationen sind diese Überlegungen nur bedingt tauglich. Den Bedürfnissen solcher Insti­tutionen jedoch soll die IHRA-Definition entgegenkommen. Deshalb ist Peter Ullrichs Vorschlag zur Überarbeitung der Definition im Hinblick auf anti­semitische Vorfälle zu begrüßen. Es wäre eine Abkehr von Bekenntniszwang und Innerlichkeit. Wissenschaft wie linker Debatte würde dieser Schritt guttun.