Heiko Heinisch über die populistischen Konzepte islamistischer Organisationen und das Verhältnis salafistischer und legalistischer Strömungen im politischen Islam

»Es ist eine populistische Argumentation«

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Vor drei Jahren steuerte Anis Amri einen LKW in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin. Der islamistische Attentäter war den Behörden bekannt. Dennoch gelang es ihnen nicht, das Attentat zu verhindern. Wie kann es zu solchen Fehlern bei der Polizei und den Geheimdiensten kommen?

Es ist vermutlich schwer einzuschätzen, wann jemand zum Gewalttäter wird, der zuvor noch nicht gewalttätig war. Das ist in jedem einzelnen Fall ein Roulettespiel. Denn woran machen Sicherheitsbehörden eine besondere Gefährdung fest? Nach außen gezeigte Strenggläubigkeit allein kann kein Kriterium sein. Wir wissen ja auch von den Attentätern des 11. September 2001, die in Hamburg lebten, dass sie sich möglichst angepasst verhielten und nach außen nicht als besonders strenggläubige Muslime in Erscheinung traten.
 

Auch die Rückkehr von IS-Anhängern nach Deutschland beschäftigt die deutschen Behörden. Aus einer Auskunft des Bundesinnenministeriums geht hervor, dass derzeit ­gegen 116 Menschen ermittelt wird, die aus Gebieten der Terrormiliz nach Deutschland zurückgekehrt sind. Sind das alles Gefährder?

Jeder einzelne stellt eine potentielle Gefahr dar, obwohl ich denke, dass es schwierig ist, das im Einzelfall zu beurteilen. Um herauszufinden, wer eine Gefahr darstellt und wer nicht, braucht es vor allem Zeit. Das ist ein ziemliches Dilemma, weil man nicht alle Rückkehrer präventiv einsperren oder überwachen kann. Aber wir wissen ja, dass es nach dem Ende des Kalifats den Aufruf an IS-Anhänger gab, dezentraler zu agieren und Anschläge an den jeweiligen Aufenthalsorten zu verüben.
 

Die Debatte über islamistischen Terror ist auf den Salafismus zugeschnitten. Der Verfassungsschutz sieht darin offenbar noch immer das größte Problem und geht von einer anhaltenden Attraktivität des Salafismus aus. Ist diese Einschätzung stichhaltig?

Den Salafismus halte ich langfristig für das kleinere Problem, ebenso wie den Jihadismus. Das sind beides sehr auffällige Gruppen, die ihre Ideologie nicht verleugnen und auch nach außen deutlich erkennbar auftreten. Für gesellschaftlich gefährlicher halte ich jene Gruppen, die aus der Muslimbruderschaft oder der türkischen Millî Görüş heraus kommen. Diese treten nach außen gesetzeskonform auf; wenn man sie fragt, bejahen sie die Verfassung und den Staat. Intern pflegen sie aber einen ganz anderen Diskurs. Sie versuchen, mit einem vermeintlich demokratiekonformen Auftreten gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Sie pflegen eine Ideologie, die nicht weit entfernt ist von der der Salafisten. Damit gehen sie allerdings nicht offen um.
 

Welche Gefahr geht von diesem sogenannten legalistischen Islamismus aus?

Die Utopie dieser Gruppen ist eine islamische Weltgemeinschaft, ein fundamentalistisches System. Zwar lehnen sie Terroranschläge als Mittel ihrer Politik ab und distanzieren sich auch davon, aber wenn es um konkrete Konflikte geht, wie zum Beispiel den Nahostkonflikt, unterstützen sie sehr wohl Terroristen wie zum Beispiel die Hamas. Es handelt sich also um ein pragmatisches Verhältnis zur Gewalt. Legalisten und Salafisten teilen eine Menge ideologischer Grundsätze. Das beginnt bei der Einteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige, dazu gehören auch die Imagination der islamischen Weltgemeinschaft, das Überlegenheitsdenken, die Ablehnung der liberalen Demokratie, der allgemeinen Menschenrechten, der Trennung von Religion und Staat, der Gleichwertigkeit von Männern und Frauen und vor allem die Selbstwahrnehmung der Muslime. Legalistische Gruppen stellen Muslime als seit 1 400 Jahren bedrängte Gemeinschaft dar, angefangen bei den Kreuzzügen und der Reconquista bis zur Verfolgung der Rohingya in Myanmar und der Uiguren in China. All das ergibt ein ahistorisches Narrativ, das verwoben wird mit den persönlichen Diskriminierungserfahrungen, die Muslime in unserer Gesellschaft machen. An dieser Stelle können dann Salafisten und Jihadisten andocken, indem sie einen Schritt weiter gehen und sagen, dass in Fällen, in denen die Gemeinschaft so bedrängt werde, es nicht nur erlaubt, sondern verpflichtend sei, sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen. Es ist im Prinzip eine populistische Argumentation. Ich sehe die Gefahr, dass Jugendliche, die legalistischen Islamisten in ihren Moscheen oder Freizeiteinrichtungen ausgesetzt sind, sehr leicht ansprechbar sind für diesen nächsten Schritt.
 

Wirkt sich diese Entwicklung auch außerhalb der Moscheen aus?

Langfristig wirkt sich das auf die gesamte Gesellschaft aus. Wenn sich zum Beispiel Jugendliche auf Schulhöfen als Sittenwächter aufspielen, die ihre Mitschülerinnen und Mitschüler maßregeln, bauen sie Druck auf und tragen zu einem konservativer werdenden Klima bei. Wenn sich so ein patriarchal-konservatives Klima durchsetzt, zum Beispiel bei der Kleidung von Mädchen, betrifft das alle.