Die Hintergründe des ­islamistischen Attentats vom Berliner Breitscheidplatz bleiben ungeklärt

Deckname Murat

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Bilel Ben Ammar hingegen war den Behörden von Beginn an als enger Vertrauter Amris bekannt. Die beiden trafen sich noch am Abend vor dem Anschlag. Ben Ammars Vernehmungen durch das BKA nach dem Anschlag erweckt den Eindruck, als hätten die Ermittlungsbehörden nicht ernsthaft versucht, weitere Beweise gegen ihn als möglichen Mittäter zu sammeln. So wurde der Umstand, dass er nach dem Anschlag mehre Tage untertauchte, in den Vernehmungen ebenso wenig thematisiert wie die Fotos vom Breitscheidplatz auf seinem Handy. Er wurde schließlich, noch während die Bundesanwaltschaft ihn der Mittäterschaft verdächtigte, unter dubiosen Umständen abgeschoben. In Tunesien wurde er inzwischen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu acht Jahren Haft verurteilt.

Amri war in jihadistische Netzwerke eingebunden, die alle mehr oder weniger unter dem Dach des IS standen. Nach zwei Jahren Untersuchungsausschuss ist zumindest klar, dass ohne dessen Arbeit die Debatte über Mittäter nicht so weit vorangekommen wäre und die Behörden an einigen Stellen auch auf den Druck aus dem Parlament reagieren mussten.

Von V-Leuten umstellt
Hans-Georg Maaßen, von 2012 bis 2018 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, hatte gleich in der ersten Sitzung des Innenausschusses nach dem Anschlag betont, Amri sei ein »reiner Polizeifall« gewesen, in dessen Nähe es keine Einsätze von V-Personen gegeben habe (Jungle World 12/2019). Mittlerweile ist bekannt, dass es mindestens einen V-Mann in der Berliner Fussilet-Moschee gab, an dem Ort, wo der Attentäter im Jahr 2016 regelmäßig verkehrte. Offenbar führte das BfV auch eine eigene Personenakte zu Amri, und die zuständige Sachbearbeiterin löste sogenannte Beschaffungsaufträge aus. Gleich mehreren V-Personen wurden im Jahr 2016 Lichtbilder von Amri vorgelegt.

Uneinigeit der Behörden
Rückmeldungen habe es vor dem Anschlag jedoch keine gegeben. So habe auch die »Fussilet-Quelle« Amri erst nach dem Anschlag als Besucher der Moschee identifiziert. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass das BfV weitere V-Personen im Umfeld des Attentäters eingesetzt hatte. Der Inlandsgeheimdienst fertigte schon im Januar 2016 ein Behördenzeugnis an, in dem mehrere durch eine polizeiliche V-Person des Landes Nordrhein-Westfalen gewonnene Erkenntnisse zu Amri, unter anderem Anschlagspläne, ausführlich dargelegt wurden. Die Polizeiquelle VP01 mit dem Decknamen »Murat« war eng in die Planungen der Abu-Walaa-Gruppe eingebunden und hatte bis ins Frühjahr 2016 Kontakt zum Attentäter. Sie war aber wohl nicht die einzige V-Person, auf die die Ermittler in Nordrhein-Westfalen zurückgreifen konnten. Laut Aussage eines Beamten hätten auch eine V-Person des hessischen Landeskriminalamts und eine V-Person des Landes Berlin Informationen beigesteuert. Anfang 2016 habe man zudem versucht, zwei weitere Quellen heranzuführen. Dafür sollten zuvor von verdeckten Ermittlern angemietete Geschäftsräumlichkeiten verwendet werden.

Auch das BKA soll während des Ermittlungsverfahrens »Eisbär« einen V-Mann eingesetzt haben. Dieser Einsatz richtete sich gegen mehrere Personen, die im Verdacht standen, vom Berliner IS-Terroristen Dennis Cuspert nach Deutschland geschickt worden zu sein, um Anschläge zu begehen. Ein enger Kontakt der Beschuldigten war Amris Vertrauter Bilel Ben Ammar. Im selben Komplex wurde auch ein weiterer fragwürdiger V-Mann-Einsatz bekannt. Die Ereignisse rund um Emanuel P. sorgten dafür, dass sich der Ausschuss für Verfassungsschutz des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Thema »Regelverstöße beim Einsatz von V-Personen im Bereich Islamismus« beschäftigten musste. Die vom Berliner Verfassungsschutz geführte V-Person soll im Sommer 2015 bei dem Versuch geholfen haben, einen damals 16jährigen in das Gebiet des IS zu bringen. Der 16jährige wurde gefasst, gegen Emanuel P. wurde ein Ermittlungsverfahren wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat eröffnet.

Organisierte Inkompetenz
Zurzeit beschäftigt sich der Ausschuss mit zwei Skandalen. Zum einen stehen erst im Oktober bekannt gewordene Videos eines ausländischen Geheimdiensts im Mittelpunkt, über die die deutschen Geheimdienste die Ermittlungsbehörden erst mit erheblicher Verzögerung informierten. Woher die Videos genau stammen, wollen die Behörden bis heute nicht sagen. Der ­Inlandsgeheimdienst, welcher im November 2016 damit beauftragt wurde Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes auf Amri abzuklären, will entsprechende Informationen erst nach dem Anschlag erhalten haben. Diese Angabe ist fragwürdig, gibt es doch in anderen Fällen die Praxis partnerschaftliche Dienste beim Vorliegen von Informationen über geplante Anschläge zeitnah zu informieren.

Ein leitender Beamter des nordrhein-westfälischen LKA gab in seiner Vernehmung zu Protokoll, es habe aus dem BKA im Februar 2016 eine Art Anweisung gegeben, die erwähnte Polizeiquelle VP01 abzuziehen, da für diese ein zu großer Aufwand nötig sei. Außerdem habe das BKA sich vehement gegen ein vom nordrhein-westfälischen LKA gestelltes Ersuchen auf Verfahrensübernahme gewehrt. Bisher hatte das BKA ein solches Ersuchen immer bestritten und sich für die Bearbeitung von Amri de facto für nicht zuständig erklärt. Bisherige Zeugenvernehmungen vermitteln ein Bild, nach dem in Berlin Beamte zum Einsatz kamen, denen weder die Organisationsstruktur und die Vorgehensweise des IS noch dessen zentrale Akteure in Deutschland bekannt gewesen zu sein scheinen.

Einfach weiter so
Die bisherigen zwei Jahre Aufklärungsarbeit förderten erhebliche Defizite bei Polizeibehörden und Geheimdiensten zutage. Wie üblich beim Versuch parlamentarischer Aufklärung wurden auch hier Akten geschwärzt, wichtige Dokumente beschwiegen, mutmaßlich sagten auch Zeugen die Unwahrheit. Bei Bedarf behauptet die Bundesregierung auch auf schlicht eine konsequente Aufklärungsarbeit gefährde Sicherheitsinteressen. Die Opposition klagte erfolgreich vor dem Bundesgerichtshof auf Herausgabe weiterer ­Geheimdienstakten. Die Entscheidung über eine Vernehmung der Quellenführer des Inlandsgeheimdienstes steht vor dem Bundesverfassungsgericht noch aus. Es zeigt sich: Das Problem »Quellenschutz vor Täterschutz« ist nicht auf rechten Terror beschränkt. Beim polizeilichen Vorgehen fallen erhebliche Kompetenzdefizite bei eingesetzten Beamten auf. Das Ignorieren einschlägiger Fachliteratur zum Verhalten anschlagsbereiter Jihadisten, das Übersetzen abgehörter Telefonate mit Google und um 17 Uhr endende Observationen sind nur einige erschreckende Beispiele. Nach dem Anschlag war kein großer Eifer zur Ermittlung von Mittätern, Unterstützern und Hintermännern zu erkennen, denen in Deutschland ein Prozess wegen zwölffachen Mordes gemacht werden müsste.