Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgericht

Kampf um ein Grundrecht

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Die frühere Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann bezeichnete die ­Entscheidung als kleinen Sieg und auch als persönlichen Erfolg: Sie war die erste Mitarbeiterin in einem Jobcenter, die sich öffentlich gegen Hartz IV und die Sanktionen ausgesprochen hatte. Ulrich Schneider, der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, sprach von einer Absage an die »bürokratische Massenverwaltung des Hartz-IV-Systems« und vom »Ende der Rohrstockpäda­gogik«. Harald Thomé, der Vorsitzende des Wuppertaler Vereins Tacheles, der im Januar als sachverständige Organisation vor dem Verfassungsgericht vertreten war, sprach im WDR von einem »absolut freudigen Urteil«.

Sie alle fordern aber weiter die vollständige Abschaffung der Sanktionen. Denn diese ist durch das Urteil nicht ­erreicht. Das Prinzip des »Förderns und Forderns« samt »Mitwirkungspflicht« und Bestrafung bleibt bestehen, wenn auch deutlich abgeschwächt. Das heißt, das Grundrecht auf ein menschen­würdiges Existenzminimum darf auch weiterhin an Bedingungen geknüpft werden. Es sind noch weitere Fragen offen: Wie sieht die Rechtssicherheit für Menschen unter 25 Jahren aus, die von der Totalsanktion bisher viel schneller betroffen waren? Gelten für geringere Sanktionen, zum Beispiel bei einem verpassten Termin, dieselben Ermessensspielräume und Härtefälle wie bei 30-Prozent-Strafen? Wie werden die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den Jobcentern mit ihren neuen Ermessensspielräumen umgehen?

Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, kündigte im Deutschlandfunk an, in den kommenden Wochen würden keine der als verfassungswidrig beanstandeten Sanktionen mehr ausgesprochen, sagte aber auch, dass es für die Betroffenengruppe unter 25 »gerade keine Rechtsnorm« gebe.

Das Bündnis »Auf Recht bestehen« fordert weiterhin die Abschaffung aller Sanktionen. An die Stelle der geltenden Regelungen müsse »ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung von ALG-II-Berechtigten treten«.