Massenproteste im Libanon

Alle heißt alle

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Als weiteres Szenario ist ein Rücktritt vom Rücktritt denkbar. Präsident Aoun versprach in einer Rede am Sonntag Dialog und versicherte, dass die Forderungen der Protestierenden erhört worden seien und schnellstmöglich eine Übergangsregierung gebildet werde. Die libanesische Zeitung al-Nahar berichtete, dass der zurückgetretene Hariri auch als möglicher Übergangsministerpräsident gehandelt werde und einiges auf eine Versöhnung von Hariris Zukunftspartei mit der FPM hindeute. Des Weiteren könnte Libanons Außenminister Gebran Bassil, der Schwiegersohn Aouns, damit betraut werden, eine neue Regierung aufzustellen.

Keines der Szenarien ist im Sinne der Protestbewegung, die fest entschlossen ist, die Revolte fortzusetzen, bis ihre Ziele erreicht sind und die »­politische Klasse« vollständig zurücktritt. »Alle heißt alle!« (killun yaani killun), benennt Eric einen zentralen Slogan der Revolte. »Die Revolution wird weitergehen, solange die Situation andauert.« Eric ist Banker und seit dem ersten Tag bei den Protesten. Er sagt: »Thaura«, was auf Arabisch Re­volte, Aufstand oder Revolution bedeutet, »ist eine ewige Sache. Sie wird niemals enden. Später werden die Leute vielleicht für einzelne Verbesserungen kämpfen, doch gerade kämpfen wir ums Ganze.« Das Ganze bedeutet den Rücktritt des Präsidenten und aller Abgeordneten.

Eine Übergangsregierung, gebildet aus Experten, die unabhängig von ihrer Konfession aufgrund ihres Fachwissens ernannt werden, soll die notwendigen sozioökonomischen Reformen vornehmen. Ein Ende der Korruption und des auf konfessionellem Proporz beruhenden politischen Systems des Libanon sind Hauptforderungen der Protestierenden. Letzteres sehen viele als die Ursache für die Probleme des Landes: »Wir brauchen einen zivilen Staat. Die Führer der Konfessionsgruppen haben den Libanon geplündert. Würden diese Politiker das Geld, das sie uns weggenommen haben, zurückgeben, wäre vieles einfacher. Wenn nicht, werden wir das nächste Griechenland«, fürchtet Shamas.

Ziel der Proteste ist auch der Sturz der »Bankenherrschaft«. Die Banken sind häufig im Besitz führender Politiker, die an der Verschuldung des Libanon verdienen, indem ihre Banken dem Staat Kredite gewähren. »Zudem werden die Gewinne dieser Banken in aller Regel nicht versteuert«, ergänzt Eric. Ein weiterer Antrieb der Revolte ist die Perspektivlosigkeit vieler junger Libanesinnen und Libanesen. Gut ausgebildet, finden sie nach dem Studium häufig keine Arbeit. Solange sich das nicht ändert, wollen die Rebellen und Rebellinnen trotz aller Mühen weiter auf die Straße gehen.