Klassenkampf

Vorarbeiten und nachprüfen

Kolumne Von

Die meisten Berliner ­unter Ihnen denken ja bestimmt, dass die Schule am Montag wieder angefangen hat. Da irren sich die meisten Berliner unter Ihnen, vermutlich wissen es nur diejenigen besser, die an Schulen arbeiten: Die Schule hat bereits am Mittwoch voriger Woche wieder angefangen, zwar weitgehend kinderfrei, aber Kinder sind, Insider wissen es, ohnehin nur Beiwerk in dieser erstaunlich selbstgenügsamen Maschinerie. An den drei sogenannten Präsenztagen der vergangenen Woche haben Lehrkräfte berlinweit bereits viel geräumt und geplant und geschrieben, haben an Fortbildungen aller Art teilgenommen und, dies vor allen Dingen, Konferenzen abgehalten – so selbstgenügsam ist die Maschinerie nämlich wieder nicht, dass sie ohne Konferenzen nicht augenblicklich kläglich in sich zusammenbrechen würde.

Ein paar Kinder waren allerdings doch schon da: Jene bedauernswerten Gestalten, die mit einer letzten verzweifelten Anstrengung versuchen, ihre Nichtversetzung zu verhindern, indem sie sich einer seltsamen Übung namens Nachprüfung unterziehen. Viele Lehrkräfte bekommen schlechte Laune, wenn sie »Nachprüfung« hören, vor allem, weil die zusätzliche Arbeit bedeuten und wir zusätzliche Arbeit nicht so gerne mögen. Auch stellt sich vielen die Frage, warum ihre schöne runde Ganzjahresnote, die sie, man ahnt es, mühselig im Verlauf eines ganzen Schuljahrs ermittelt haben, durch eine kleine Endprüfung außer Kraft gesetzt werden kann; gerne fällt in diesem Zusammenhang das Wort »Willkür«.

Ich verstehe den Gedanken, messe ihm aber nicht mehr viel Bedeutung bei, nachdem ich einmal Zeugin werden durfte, wie eine inzwischen pensionierte Kollegin ihren eigenen Noteneintrag nicht mehr entziffern konnte und daraufhin drei Kollegen abstimmen ließ, ob die fragliche Ziffer eine Fünf oder eine Zwei darstellte. Auch denke ich, dass Prüflinge, die es schaffen, in der Freiheit und Hitze und trügerischen Endlosigkeit der Sommerferien den Stoff des ganzen letzten Halbjahres nachzuarbeiten, sich ihre Versetzung redlich erkämpft haben.

Außer vielleicht Murat. Murat treibt gerne groben Unfug und hat dieses Hobby im Verlauf vieler Unterrichtsstunden des vergangenen Schuljahrs so gut gepflegt, dass er es im Zeugnis zu einer Sechs brachte, die er dann via Nachprüfung auf eine Fünf zu verbessern hoffte. Weil Murat seiner Auffassung nach ein ziemlicher Loser wäre, wenn er sich auf eine solche Prüfung vorbereiten würde, und in ihr folglich nach der Begrüßung überwiegend schwieg, erhielt er zunächst erneut eine Sechs. Ein so milder wie durchsetzungsfähiger Fachleiter erwirkte dann offenbar doch noch Murats Rettung und eine Fünf. Verrückt, sicherlich, aber gelohnt hat sich der Aufwand: Noch nie zuvor habe ich jemanden so begeistert eine Fünf in Empfang nehmen sehen wie Murat an diesem Tag.