Eine Kulturgeschichte der Mauer

Gute Mauern, schlechte Mauern

Der Mauerbau ist eine uralte Kulturtechnik des Ein- und Ausschlusses. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Mauer zum kontroversen Symbol geworden.

»Auf der Mauer, auf der Lauer« ist ein altes deutsches Kinderlied, in dem unbefangen über eine Steinwand gesungen wird. Die Mauer ist darin einfach nur ein Bauwerk, das weder gut noch schlecht ist. Der Mauerbau, das Errichten von Wällen und Zäunen, zieht sich durch die Geschichte der Menschheit. Ob als Schutz vor Wind und Wetter oder als Zwinger und Kerker: Mauern signalisieren nach innen und außen Macht und Stärke. Sie bieten Sicherheit, sie schirmen ab und trennen, befördern aber auch den Austausch.

Die Grenzziehung mit Steinen befriedigt das Schutzbedürfnis, ist aber auch Ausdruck der Suche nach Identität

Die Faszination der Mauer zeigt sich nicht zuletzt am Erfolg der Fantasy-Serie »Game of Thrones«. Obwohl es in der Serie um nicht viel mehr als um eine Mauer geht, haben die Fans acht Staffeln mit Begeisterung geschaut. Die Mauerinszenierung ist hier perfekt, das Versprechen der Barriere vollständig ästhetisiert: Sie schützt vor äußeren Einflüssen und Eindringlingen, sollen die Eiszombies doch kommen. Ebenso sind Mauern verbindende Elemente und durchlässig. Ob sie ein- und ausschließen, abwehren und einhegen, lenken und leiten: Mauern sind Stützen der Gesellschaft.

Obwohl der Mensch immer wieder den Mauerbau angeht, ist dessen Leumund nicht der beste. Ein chinesisches Sprichwort meint: »Wenn der Wind der Veränderung bläst, bauen einige Menschen Mauern und andere Windmühlen.« Mauerwerk ist häufig das Symbol für Unfreiheit – wie sich am Eisernen Vorhang im Allgemeinen und insbesondere an der Berliner Mauer zeigen lässt. So wurde deren Fall 1989 zum Aufbruchsignal. Man glaubte, alle Schranken dieser Welt würden eingerissen. Doch ist das Gegenteil der Fall. Rasch schotteten sich viele Staaten wieder ab und wollten die »Festung Europa« bauen. Strebungen nach nationaler Selbstbestimmung und Separatismus werden von Bau und Planung neuer Grenzbefestigungen begleitet. Pegida-Redner forderten schon mal einen Wiederaufbau der Berliner Mauer, um vor einem multikulturellen Westdeutschland sicher zu sein. Man kann von einer Renaissance der Mauer zum Schutz und zur Einschließung sprechen.

Mauern wollen überwunden werden

Die von US-Präsident Donald Trump propagierte Grenzmauer wird nichts daran ändern, dass Migration der historische Normalfall ist. Nicht nur während der sogenannten Völkerwanderung waren die Menschen unterwegs. Denn das Versprechen der Mauern ist nie eingelöst worden. Menschen haben immer einen Weg um, über, unter und durch Mauern gefunden. Ist eine Mauer einmal gebaut, will sie irgendwann auch überwunden werden.

Bau der Berliner Mauer aus Betonfertigteilen. Im Vordergrund die Mauer eines Hauses mit der Aufschrift »Die Mauer«, das zu Ostberlin gehörte und abgerissen wird. Im Hintergrund ein Wohnhaus.

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Der Mensch hat immer neue Anlässe gefunden, um Mauern zu errichten. Mauern können Flüsse und Seen stauen und fruchtbaren Schlamm für die Landwirtschaft auffangen. Mauern stützen Gelände ab, halten Tiere fern oder frieden Weidegebiete ein. Sie dienen als Sichtschutz und zur Abwehr von Dieben oder Angreifern, markieren Grenzen oder stecken Privateigentum ab. Vor Strahlen oder Splittern können sie schützen oder als digitale Firewall sensible Daten, Menschengruppen oder die ­gesamte Bevölkerung einsperren oder wie im Fall der Jerusalemer »Klagemauer« einen hoch religiösen Ort definieren. Bei Dante ist die Hölle eine ummauerte Stadt. Viele Mythen ranken sich um Mauern. Das Gilgamesch-Epos beginnt mit der Errichtung der Stadtmauer als Heldentat.

Vor 12.000 Jahren hat eine Jäger- und Sammlerkultur im Südosten der heutigen Türkei ein Heiligtum errichtet, das die gängige Theorie der Stadtentstehung in Frage stellte. Auf einem Gebirgszug wurde die pra­­historische Stätte von Göbekli Tepe entdeckt, die seit den Neunzigern von Archäologen ausgegraben wird. Monumentale, meist kreisförmige Maueranlagen kamen in mehreren Bauschichten ans Licht. Steinerne Wände grenzen Innen- und Außenbereiche ab. Über das dort vollzogene Ritual lässt sich lediglich spekulieren.

Den hohen Organisierungsgrad der damaligen Bewohner legt die anspruchsvolle Architektur nahe. Während der Arbeiten musste die Versorgung gewährleistet sein; die Erbauer selbst konnten ja nicht umherziehen und jagen. Man kann den Beginn der arbeitsteiligen Gesellschaft erahnen. Die für die Errichtung und den Unterhalt der Heilig­tümer entwickelten Techniken waren es wohl, die die Voraussetzung für die allgemeine Sesshaftwerdung schufen. Ackerbau und Viehzucht breiteten sich allmählich als Wirtschaftsweise aus, was man gemeinhin neolithische Revolution nennt. Das Dorf stand nicht am Anfang dieser Entwicklung vom Jäger und Sammler zum Züchter und Anbauer, sondern an ihrem Abschluss.

Dialektik der Mauer

Vor rund 7 000 Jahren entstanden die ersten Städte, die von Stadtmauern geschützt waren. Diese Bauwerke sollten auch beeindrucken und konnten daher in späteren Zeiten imposante Ausmaße annehmen. Man denke etwa an das Ischtar-Tor aus Babylon, das in den zwanziger Jahren nach Berlin geschafft wurde.

Stadtmauern trennen den urbanen Ort vom Land. Intra muros, lateinisch für »innerhalb der Mauer«, galt als Pseudonym für den Städter. Mauern waren das Symbol für die mittelalterliche Stadt, weshalb sie auch auf den Stadtsiegeln markant abgebildet wurden. Doch längst nicht alle Städte verfügten über Mauern. Für das deutschsprachige Gebiet vermutet die Wissenschaft, dass nur 50 Prozent der Städte von Mauern umschlossen waren. Es existierten aber vielerorts auch durch Stein­ringe befestigte, sogenannte Wehr­dörfer. Stadtmauern dienten auch der Repräsentation und sollten urbanes Selbstbewusstsein ausstrahlen. So werkelten die Bürger von Nördlin­gen 300 Jahre am steinernen Ring. In der Neuzeit verlor Nördlingen an Bedeutung und die Mauer wurde nicht mehr erweitert. Ein Glücksfall für den Tourismus: Hoch oben kann man das Mauernrund komplett ablaufen und in das pittoreske Städtchen schauen.

Mit Horn und Posaune gegen Mauern: So stellte man sich bislang die Zerstörung Jerichos durch die Israeliten vor.

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mauritius images / Memento

Eine Mauer steht niemals nur für sich selbst. Ob Festung oder Grabmal, Ghetto oder Paradiesgarten: Die menschliche Existenz ist mit Mauern eng verbunden. Mauern legen räumliche Machtbeziehungen fest, werden gesellschaftlich produziert und wirken auf die Gesellschaft zurück. Das ist die Dialektik der Mauern: Wo Mauern hochgezogen werden, will man sie zugleich auch einreißen oder überschreiten. Während der Dekolonialisierung wurden Großstau­dämme euphorisch als Ausdruck erwachten Nationalbewusstseins gefeiert. Projekte wie Assuan, Itaipú und Tarbela versprachen in Afrika, Asien und Lateinamerika technolo­gischen Fortschritt. Die Projekte zur Energiegewinnung hatten aber auch Umsiedlung und Verarmung, Beein­trächtigung der flussabwärts Lebenden und Umweltzerstörung zur Folge. Vom Verkauf und Bau der teuren Mauertechnologien profitierten vor allem internationale Konzerne.

Suche nach Identität

Als Schnittstelle zwischen Natur und Kultur erfüllen Mauern elementare Zwecke. In der Gegenwart werden ihre Aufgaben zunehmend von digitalen Kontroll- und Überwachungssystemen übernommen. Die Mauern der Spätmoderne sind der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen. Mauern eröffnen Möglichkeitsräume und schränken diese ein. Die Wiederkehr der Mauer als Grenzbastion in Zeiten der globalen Migration ist nicht zufällig. Unübersichtliche Situationen und Identitätskrisen lassen Mauern und Dämme als probates Mittel erscheinen, Komplexität durch Aussperren zu reduzieren.

Hafenmauer im portugiesischen Sagres.

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picture alliance / Westend61

In »Gated Communities« suchen die Angehörigen der Oberschicht den selbst gewählten Hochsicherheitseinschluss. Fremde haben nur auf Einladung oder mit Voranmeldung Zutritt, die soziale Realität muss draußen bleiben. In Kalifornien werden 40 Prozent der neuen Wohnhäuser in solchen Anlagen errichtet. Die Anlage »Arcadia« in Potsdam gilt als erste »Gated Community« in Deutschland. Das Gegenstück zum Park der Reichen bildet die Ghetto­isierung der Missliebigen. Unfreiwillig Eingeschlossene gibt es bis heute: In Padua schloss man 2006 kurzzeitig eine von überwiegend ­afrikanischen Migranten bewohnte Siedlung mit einer Stahlmauer ein – vorgeblich, um den Drogenhandel zu unterbinden. In osteuropäischen Staaten wurden mehrfach Sinti- und Roma-Quartiere durch Mauern abgegrenzt.

Die Grenzziehung mit Steinen befriedigt das Schutzbedürfnis, ist aber auch Ausdruck der Suche nach Identität; und sei es nur, um seinen Garten von der Pflanzkultur des Nachbarn abzugrenzen. Mauern zementieren Unterschiede und stecken (Kultur-)Räume ab – und können sich doch nicht auf Dauer halten. Veränderung ist ein Faktor der Geschichte, die voll von geschleiften Bollwerken ist. 

Der Mythos »Chinesische Mauer«

Das kann man auch am Mythos »Chinesische Mauer« ­sehen. Denn eine solche hat es nie als 2.000 Jahre alten und 6.000 Kilometer langen geschlossenen Verteidigungswall gegeben. Die Große Mauer besteht aus unzähligen Teilstücken und Wällen, die man erst später als zusammenhängendes Bauwerk interpretierte. Das Titanenwerk konnte das Land nicht vor mehrfacher »Fremdherrschaft« bewahren. Nach Maos Kulturrevolution wurde die Mauer zum Zeugnis nationaler Leistungsfähigkeit wie Ausdruck der Abschottungspolitik, sie ist noch heute Objekt von Projektionen. Übrigens kann man sie vom Weltall aus nicht sehen – das musste 2003 der erste chinesische Astronaut nach seinem Flug berichten.

Chinesische Mauer bei Mutianyu.

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mauritius images / Sabrina Larcher

Eine chinesische Mauer, die einen guten Zweck erfüllt, ist das Aufforstungsprojekt »Grünes China«, es soll Wüstenstürme zurückhalten. Für diesen organischen Schutzwall werden Bäume und Büsche auf einer Fläche so groß wie Deutschland gepflanzt. Auch der australische Dingozaun schützt Tiere: Das mit einer Länge von 5.412 Kilometer längste Bauwerk der Welt bewahrt Schafherden vor Raubtieren.

Während sich zum Beispiel auch das zweite Persische Großreich mit der »Rote Schlange« genannten Mauer vom Kaspischen Meer nach Osten hin einigelte, kamen andere Imperien ohne solche Sperranlagen aus. Großflächige Landschaftstrennungen etwa kannte man im antiken Griechenland kaum. Man grenzte sich kulturell von den »Barbaren« – das waren wertneutral erst einmal alle Nichtgriechen – ab, baute ummaurte Städte in ihren Gebieten, dachte aber nicht daran, sich räumlich abzuschotten.

Ökonomische Kontrolle

Der berühmte Limes der Römer diente vor allem der Kontrolle von Handel und Grenzverkehr. Er sollte weniger eine uneinnehmbare Bastion bilden als eine schnelle Reaktion auf größere Angriffe ermöglichen. So dämmte der im 2. Jahrhundert zwischen Rhein und Donau auf 550 Kilometer aufgespannte Palisadenzaun Raubzüge von Germanen ein. Weil aber im römischen Weltbild Grenzen keine Rolle spielten, sperrte er kein nationales Territorium ab; überdies war Rom inklusiv und nahm immer wieder »barbarische« Migranten auf, versklavte sie aber auch gerne.

Ökonomische Kontrolle war auch die Funktion der alten Berliner Zollmauer. Der Stadtwall erfüllte bis Mitte des 19. Jahrhunderts den Zweck, den Warenverkehr zu regulieren.

Im europäischen Mittelalter blieben die territorialen Außengrenzen weitestgehend ungesichert. Aber Mauern wurden unter dem Eindruck eindringender Ungarn und Wikinger um Städte und Klöster gezogen. In Burgen schützten sich Adlige vor allem vor ihresgleichen. Eine Vorstellung von Staat und Nation als präzise abgestecktes Gebiet bildete sich erst in der Neuzeit heraus. Deshalb sind durchgängige Mauerwerke und Grenzen abriegelnde Bollwerke, in denen sich Militär verbarrikadierte, ein Phänomen der Moderne. Wo sie in etlichen Kriegen entweder geschleift oder umgangen wurden.

Die Geschichte der Mauer ist die Geschichte ihres Falls

Halten oder Überwinden, das ist oftmals die Frage. Darum sind in Historienfilmen oder Fantasy-Epen die Mauerkämpfe ein besonderes Spektakel. Man denke nur an »Der Herr der Ringe«, wo der Wall von Helms Klamm hart umkämpft ist und von 10 000 Uruk-hai-Kriegern belagert wird.

Oft bedurfte es keines schweren Geräts, damit Mauern fielen, manchmal reichte der Verrat. Einen solchen sieht Kulturwissenschaftler Thomas Macho beim biblischen Jericho am Werk, dessen Mauern Trompeten zum Einsturz gebracht haben sollen. Diese seien als Signal an Verbündete in der Stadt zu deuten, die Tore zu öffnen.

Berliner Mauer

Berliner Mauer 

Bild:
Verlag der Buchhandlung Walter König

Hilft auch ein Lied? David Hasselhoff glaubt angeblich nicht mehr, die Berliner Mauer mit seinem Gassenhauer »Looking for Freedom« zu Fall gebracht zu haben.

Zweifellos hilft eine Leiter. »Du zeigst mir eine 50 Fuß hohe Mauer, und ich zeige dir eine 51 Fuß hohe Leiter«, sagte ein US-Grenzwächter.

Das Loch in einer Mauer ist ein wiederkehrendes Symbol der Freiheit, das T-Shirts und Postkarten ziert. »Der Turm stürzt ein / Halleluja, der Turm stürzt ein«, sangen frohlockend Ton Steine Scherben. Geschleifte Mauern gelten als Zeichen der Veränderung.

Ein tief im kollektiven Bewusstsein verankertes Bild ist der Sturm auf die Bastille, der die Französische Revolution versinnbildlicht, so wie der Mauerfall 1989 das Ende des Kalten Krieges. Die Geschichte der Mauern ist immer auch die des Mauerfalls. Der Historiker Rafael Seligmann kommt zu dem Schluss, das Mauern sinnlos sind: »Die Menschen gelangen am Ende dorthin, wo sie hingelangen wollen. Sie müssen genug ­Geduld aufweisen, genug Energie, genug Gewalt, aber eine Mauer ist auf Dauer kein Konzept. Jede Mauer wird scheitern.«