Eine Kulturgeschichte der Mauer

Gute Mauern, schlechte Mauern

Seite 2 – Mauern wollen überwunden werden

Die von US-Präsident Donald Trump propagierte Grenzmauer wird nichts daran ändern, dass Migration der historische Normalfall ist. Nicht nur während der sogenannten Völkerwanderung waren die Menschen unterwegs. Denn das Versprechen der Mauern ist nie eingelöst worden. Menschen haben immer einen Weg um, über, unter und durch Mauern gefunden. Ist eine Mauer einmal gebaut, will sie irgendwann auch überwunden werden.

Bau der Berliner Mauer aus Betonfertigteilen. Im Vordergrund die Mauer eines Hauses mit der Aufschrift »Die Mauer«, das zu Ostberlin gehörte und abgerissen wird. Im Hintergrund ein Wohnhaus.

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Der Mensch hat immer neue Anlässe gefunden, um Mauern zu errichten. Mauern können Flüsse und Seen stauen und fruchtbaren Schlamm für die Landwirtschaft auffangen. Mauern stützen Gelände ab, halten Tiere fern oder frieden Weidegebiete ein. Sie dienen als Sichtschutz und zur Abwehr von Dieben oder Angreifern, markieren Grenzen oder stecken Privateigentum ab. Vor Strahlen oder Splittern können sie schützen oder als digitale Firewall sensible Daten, Menschengruppen oder die ­gesamte Bevölkerung einsperren oder wie im Fall der Jerusalemer »Klagemauer« einen hoch religiösen Ort definieren. Bei Dante ist die Hölle eine ummauerte Stadt. Viele Mythen ranken sich um Mauern. Das Gilgamesch-Epos beginnt mit der Errichtung der Stadtmauer als Heldentat.

Vor 12.000 Jahren hat eine Jäger- und Sammlerkultur im Südosten der heutigen Türkei ein Heiligtum errichtet, das die gängige Theorie der Stadtentstehung in Frage stellte. Auf einem Gebirgszug wurde die pra­­historische Stätte von Göbekli Tepe entdeckt, die seit den Neunzigern von Archäologen ausgegraben wird. Monumentale, meist kreisförmige Maueranlagen kamen in mehreren Bauschichten ans Licht. Steinerne Wände grenzen Innen- und Außenbereiche ab. Über das dort vollzogene Ritual lässt sich lediglich spekulieren.

Den hohen Organisierungsgrad der damaligen Bewohner legt die anspruchsvolle Architektur nahe. Während der Arbeiten musste die Versorgung gewährleistet sein; die Erbauer selbst konnten ja nicht umherziehen und jagen. Man kann den Beginn der arbeitsteiligen Gesellschaft erahnen. Die für die Errichtung und den Unterhalt der Heilig­tümer entwickelten Techniken waren es wohl, die die Voraussetzung für die allgemeine Sesshaftwerdung schufen. Ackerbau und Viehzucht breiteten sich allmählich als Wirtschaftsweise aus, was man gemeinhin neolithische Revolution nennt. Das Dorf stand nicht am Anfang dieser Entwicklung vom Jäger und Sammler zum Züchter und Anbauer, sondern an ihrem Abschluss.