AMIA-Anschlag in Buenos Aires

Das Netzwerk der Attentäter

Vor 25 Jahren starben beim Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires 85 Menschen. Noch immer ist der Massenmord nicht aufgeklärt.

Seit über zwei Jahrzehnten ertönt am Morgen des 18. Juli eine Sirene in Buenos Aires. Auf einer Kreuzung der Pasteur-Straße im Stadtviertel Bal­vanera kamen auch dieses Jahr über 100 Menschen zusammen, um derer zu gedenken, die hier 1994 den Tod fanden. Ein Selbstmordattentäter zer­störte damals mit einer 300 bis 400 Kilogramm schweren Autobombe die Zentrale der jüdischen Gemeinde in Argentinien (Asociación Mutual Israelita ­Argentina, AMIA) nahezu vollständig; 85 Menschen starben, etwa 300 wurden verletzt. Außerdem gingen zahlreiche historische Dokumente und Akten, die die Geschichte der Juden am Río de la Plata dokumentierten, unwiederbringlich verloren.

Anlässlich des Jahrestags dokumentierte die AMIA, deren Sitz an derselben Adresse wiederaufgebaut wurde, Bilder, Namen und Schicksale der ­Getöteten auf ihrer Facebook-Seite. Neben memoria, Erinnerungsarbeit ­gegen das Vergessen, wird dort nach all den Jahren vor allem justícia, Gerech­tigkeit, gefordert. In den Worten des AMIA-Vorsitzenden Ariel Eichbaum bei der Gedenkstunde: »Wir fragen uns, wie Sie alle hier heute, mit einem ­Gefühl der Hilflosigkeit, das nicht zu beschreiben ist: Wie ist es möglich, dass es 25 Jahre später nicht einen einzigen Gefangenen gibt, der für dieses Verbrechen gegen die Menschheit eine Strafe verbüßt?«

Daran ändert auch nichts, dass die argentinische Regierung anlässlich des 25. Jahrestags des Anschlags die libane­sische Hizbollah als Terrororganisation eingestuft und angeordnet hat, deren Gelder auf argentinischen Konten einzufrieren, da die Miliz als Urheberin des Anschlags gilt. Auch hinter dem ­Attentat auf die israelische Botschaft in Buenos Aires zwei Jahre zuvor, bei dem 22 Menschen starben, soll die Hiz­bollah gesteckt haben. In diesem Fall ist bis heute kein Prozess eröffnet worden. Einen Tag nach der Bekanntmachung Argentiniens erklärten die USA – deren Außenminister Mike Pompeo bei der Gedenkfeier in Buenos Aires anwesend war –, dass der Hizbollah-Terrorist Salman Raouf Salman maßgeblich hinter dem Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum ­gesteckt habe. Auf Hinweise, die zu dessen Ergreifung führen, setzte die US-Regierung eine Belohnung von umgerechnet 6,2 Millionen Euro aus.

Komplettes Justizversagen

Inzwischen wird die Hypothese, dass die Hizbollah und iranische Hintermänner hinter dem ­Anschlag steckten, von den meisten Personen und ­Organisationen, die sich damit befassen, als wahrscheinlichste angesehen. Das war nicht immer so. Tatsächlich ist der Fall AMIA ein Paradebeispiel für komplettes Justizversagen. Zu stümperhaftem Vorgehen, das unmittelbar nach dem Anschlag begann und das man wohlwollend auf das Fehlen von Erfahrungen der argentinischen Justiz mit Ermittlungen ähnlichen Ausmaßes zurückführen kann, gesellte sich umgehend eine schwer fassbare kriminelle Energie, die die Aufklärung nachhaltig und erfolgreich sabotierte.

Juan José Galeano, der zunächst zuständige Bundesrichter, hielt es für ausgemacht, dass Beamte der Polizei der Provinz Buenos Aires hinter dem Anschlag steckten. 2004 wurden die Beschuldigten jedoch freigesprochen, Galeano wurde 2005 seines Amtes enthoben – wegen Verschleppung des ­Verfahrens und Vernichtung von Beweisen. Daraufhin wurden gegen Galeano und zwei der beteiligten Staatsanwälte Verfahren eingeleitet. Den dritten Staatsanwalt, Alberto Nisman, betraute der damalige Präsident Néstor Kirchner 2004 als Chefermittler mit dem Fall. An seine Seite stellte der Präsident den Geheimdienstler Antonio Horacio ­Stiuso. Beide arbeiteten eng mit US-amerikanischen und israelischen Sicherheitsbehörden zusammen. Nisman kam zu dem Schluss, dass der Sprengstofftransporter von Ibrahim Hussein Berro, einem Hizbollah-Mitglied, platziert worden sei, und dass die Hintermänner im Iran zu suchen seien.

2006 erhoben die Ermittler Anklage gegen acht Funktionäre des iranischen Regimes, darunter Akbar Hashemi Rafsanjani, der von 1989 bis 1997 iranischer Präsident war und 2017 verstarb. Obwohl ­Interpol damals Red Notifications ausstellte, eine Art internationaler Haft­befehl, konnten die meisten der Gesuchten auch danach problemlos reisen – auch in viele Länder, die diplomatische Beziehungen zu EU-Ländern, den USA und Argentinien unterhalten.

Verschwörungstheorien kursieren

Nisman wurde am 18. Januar 2015 mit einer tödlichen Schusswunde am Kopf in seiner Wohnung im Luxusviertel ­Puerto Madero in Buenos Aires aufgefunden. Ob es Mord oder Selbstmord war, dazu gibt es heute sich widersprechende Ermittlungsergebnisse. 2017 kam der Bundesrichter Julián Ercolini allerdings zu dem Schluss, es könne sich nicht um Selbstmord gehandelt haben.

Nisman hatte kurz vor seinem Tod eine Anklageschrift fertiggestellt, in der er unter anderen der damaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und ihrem Außenminister Héctor Timerman vorwarf, wegen der wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran an der Vertuschung der Identität der ­Anschlagsurheber mitgewirkt zu haben. Die geplante Einrichtung einer gemeinsamen Wahrheitskommission mit dem Iran verunmögliche, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Grund dafür sei, so Nisman, ein geplantes Erdölgeschäft. Nur hatte er keine Beweise dafür. Der zuständige Richter, der schon die Haftbefehle gegen die Iraner ausgestellt hatte, wies die Anklage später ab. Nisman hätte am 19. Januar im Abgeordnetenhaus seine Vorwürfe untermauern sollen.

Dass ein so angesehener und professioneller Staatsanwalt eine nicht ­beweisbare Anklage erhebt und dann unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt, machte den Fall AMIA noch rätselhafter. Die Aufmerksamkeit richtete sich bald auf Nismans Partner, den Geheimdienstler Stiuso, der einen zweifelhaften Ruf genoss und vielen innerhalb der Sicherheitsbehörden als zu mächtig und gefährlich galt. Während sich Verschwörungstheorien verbreiteten, ließ Fernández de Kirchner den Geheimdienst Secretaría de Inteligencia (SI) schließen und neu gründen. Nismans Tod wird mit großer Wahrscheinlichkeit unaufgeklärt ­bleiben.

Täter weiter auf freiem Fuß

Während also die »iranische Spur« in einem Dickicht aus Ungereimt­heiten und damit in Straflosigkeit ­endete, hatten die ersten Ermittlungen gegen lokale Polizisten noch ein Nachspiel. Im Prozess »AMIA I« von 2001 bis 2004 wurde aufgedeckt, dass das Netzwerk des Vertuschens und Verschleierns bis in die höchsten Staatsämter reichte. 2015 wurde deshalb ein zweites Verfahren eröffnet, das ebenjenen Amtsmissbrauch zum Gegenstand hatte: der Prozess AMIA II. Unter den 13 Angeklagten waren neben dem zur Zeit des Attentats amtierenden Präsidenten Carlos Menem (1989 bis 1999) auch der Richter Galeano ­­sowie der damalige Geheimdienstchef Hugo Anzorreguy, der Polizist Carlos Castañeda sowie der Gebrauchtwagenhändler Carlos Telleldín. Sie wurden dafür verantwortlich gemacht, den Verdacht fälschlicherweise auf die Polizisten von Buenos Aires und die ­»syrische Spur« gelenkt zu haben, derzufolge ein Argentinier syrischer ­Herkunft hinter dem Attentat gesteckt haben soll.

Menem und zwei weitere Angeklagte wurden freigesprochen, die anderen Angeklagten sah das Gericht als schuldig an. Doch der Schuldspruch vom 28. Februar 2019 war längst vom nächsten Skandal überschattet. Während der Plädoyers über ein Jahr zuvor hatte der Anwalt, der die Position der Regierung vertrat, geringe Strafen für die in die Vertuschung verwickelten Staatsanwälte Eamon Mullen und José Barbaccia gefordert. Angehörige der Opfer und einige Politiker kritisierten diesen Umstand vehement als Klientelismus. Kurz darauf ordnete Staatspräsident Mauricio Macri die Schließung des Staatssekretariats für die Fälle AMIA und Nisman an, die er selbst zwei ­Jahre zuvor eingerichtet hatte. Deren letzter Leiter, Mario Cimadevilla, sah hinter den milden Plädoyers eine Einmischung des Justizministers Germán Garavano. Diesen und weitere Beamte zeigte er daraufhin an – wegen Ver­tuschung und Amtsmissbrauch.

Für die Angehörigen der Opfer und die jüdische Gemeinde stellen diese Prozesse, die sich zu perpetuieren scheinen, freilich nur einen Nebenschauplatz dar, betreffen sie doch nicht das eigentliche Attentat, sondern lediglich die Zeit danach. Obwohl also Strafen verhängt werden, bleiben die Worte des AMIA-Präsidenten wahr: Die Urheber des Verbrechens selbst sind weiter auf freiem Fuß. Mit Aufklärung und Gerechtigkeit ist wohl nicht mehr zu rechnen. Durch das Heulen der Sirene werden sie aber jedes Jahr aufs Neue eingefordert werden.