Der völkische »Flügel« in der AfD

Bauchredner der Parteiseele

Der Personenkult um Björn Höcke ist vielen AfD-Funktionären ein Dorn im Auge. Doch sein völkischer Flügel hat in der Partei längst die Oberhand.

Die AfD hat am Wochenende den Wahlkampf für die am 1. September stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg mit schrillen Tönen begonnen. »Die Jagdsaison ist eröffnet«, lautete die Losung bei der Auftaktveranstaltung im sächsischen Lommatzsch. Der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen gab sich in Cottbus selbstbewusst, wo er vor etwa 1 000 Zuhörern eine launige Eröffnungsrede hielt. Er pries seine Partei wieder einmal als die »einzig wahre Opposition« und wetterte gegen die »wirren, durchgeknallten Politikscharlatane« der »Kartellparteien«.

Der gesamte Osten ist faktisch das Territorium des »Flügels«.

Doch Meuthen lieferte auch einen kleinen Hinweis darauf, dass in der AfD derzeit ein Richtungsstreit stattfindet. »Wir lassen uns nicht spalten«, rief der Europaparlamentarier der Menge zu. Auffällig war, dass Meuthen in seiner Rede zwar den brandenburgischen AfD-Vorsitzenden Andreas Kalbitz und dessen sächsischen Kollegen Jörg Urban begrüßte, einen Namen jedoch unerwähnt ließ – den des ebenfalls als Redner angekündigten thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke.

Allzu verwunderlich war diese Auslassung nicht. In der AfD regt sich derzeit ein von Meuthen unterstützter Protest gegen Höcke, den Anführer der völkischen Parteiströmung »Flügel«. Höcke hatte auf dem sogenannten Kyffhäusertreffen Anfang Juli den eigenen Parteivorstand heftig attackiert. Daraufhin veröffentlichten Parteifunktionäre den »Appell der 100«, in dem sie Höcke vorwarfen, er habe die »innerparteiliche Solidarität verletzt« und sei damit den »Wahlkämpfern und Mitgliedern in den Rücken gefallen«.

Ein Kreis um den maßgeblich an der Veröffentlichung des Appells beteiligten rheinland-pfälzischen Landesvorsitzenden Uwe Junge fordert, Höcke solle auf dem geplanten Parteitag Ende November für den Bundesvorsitz der AfD kandidieren. Junge und andere Kritiker des thüringischen AfD-Vorsitzenden hoffen auf ein Scheitern einer solchen Kampfkandidatur – was Höcke in die Schranken weisen soll. Die Höcke nahestehenden ostdeutschen Landesverbände, so das Kalkül, werden beim kommenden Bundesparteitagin der Minderheit sein. In den mitgliederstärkeren Verbänden des Westens hat Höcke noch wenig Unterstützung. Nordrhein-Westfalen etwa verfügt über den größten Landesverband. Die dortigen Vertreter des »Flügels« konnten nur deshalb im Vorstand verbleiben, weil die für ihre Abwahl erforderliche Zweidrittelmehrheit auf einem vorgezogenen Landesparteitag Anfang Juli nicht erreicht werden konnte. Im ebenfalls starken und für den Delegiertenschlüssel wichtigen bayerischen Landesverband wird die Fraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner, die zum »Flügel« gehört, von ihren Parteikollegen kritisiert.

Lange wurde die Rolle des »Flügels« unterschätzt

Ironischerweise kann gerade Junge seinem innerparteilichen Gegner Höcke dankbar sein. Nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke galt Junge noch als geistiger Brandstifter, da er im Dezember 2017 auf Twitter geschrieben hatte: »Der Tag wird kommen, an dem wir alle Ignoranten, Unterstützer, Beschwichtiger, Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer zur Rechenschaft ziehen werden.« Da Junge aber kurz darauf die Protestnote gegen Höcke öffentlich präsentierte, wurde der Oberstleutnant a. D. auf Spiegel Online in den Kreis der »halbwegs gemäßigten Rechten« aufgenommen. Von »bürgerlich-konservativen Kräften« in der AfD ist zurzeit angesichts der Auseinandersetzung in etlichen Blättern die Rede – was ein wenig an die Satirezeitschrift Titanic erinnert, die einst die Gruppe »Kritische FaschistInnen in der NSDAP« erfand.

Lange wurde die Rolle des »Flügels« unterschätzt – und es ist wahrscheinlich, dass die innerparteilichen Kritiker Höckes die Lage verkennen.

Dass der vermeintlich gemäßigte Junge, anders als Höcke, in Talkshows zu sehen ist, vermittelt ein falsches Bild von seiner Bedeutung in der Partei. Lange wurde die Rolle des »Flügels« unterschätzt – und es ist wahrscheinlich, dass die innerparteilichen Kritiker Höckes die Lage verkennen. Der »Flügel« ist auch jetzt im anlaufenden Wahlkampf dominant, der Brandenburger Vorsitzende Kalbitz gehört zu den wichtigsten Strategen der Völkischen. Nicht nur in Thüringen, wo am 27. Oktober gewählt wird, haben Höckes Getreue eine Hausmacht. Der gesamte Osten ist faktisch das Territorium des »Flügels«. Zirkel wie die »Alternative Mitte« hingegen sind vielen Medien bestenfalls Randnotizen wert und in der Partei bedeutungslos.

Beim Kyffhäusertreffen begegnete Höcke auch den Bundesvorsitzenden Alexander Gauland und Meuthen. Gauland, der mitunter noch als Altkonservativer firmiert, war in den vergangenen Jahren der wichtigste Verbündete des »Flügels«. Die Forderung nach einer Fundamentalopposition stammt von ihm, Höcke und Kalbitz sind seine politischen Ziehkinder. Gaulands Aussage, man habe das »Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«, fiel ebenso am Kyffhäuser wie der re­visionistische Satz: »Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten.« Und Gaulands Diktum, Hitler und die Nazis seien »nur ein Vogelschiss in unserer über 1000jährigen Geschichte«, konnte selbst Höcke, der ebenfalls schon mit etlichen Reden für Skandale gesorgt hat, noch nicht übertreffen.

Wiedergänger von Bismarck und Barbarossa

Der von und um Höcke betriebene Personenkult gilt in der Partei allerdings als öffentlich schwer vermittelbar. Wenn der Mann aus Thüringen sich auf der Bühne als Wiedergänger von Bismarck und Barbarossa geriert, seine Stimme tremolieren lässt, tiefste Demut vor dem Volke bekennt und dabei vor Selbstergriffenheit fast weint, wirkt er wie die Karikatur eines faschistischen Rhetors. Dieser völkische Klamauk stört offenbar auch Parteikollegen; Helmut Seifen, der ehemalige nordrhein-westfälische Landesvorsitzende der AfD, verglich Höcke gar mit Joseph Goebbels. Mit dem AfD-Kulturpolitiker Marc Jongen und dem Histo­riker Stefan Scheil haben auch zwei altgediente Wegbegleiter des neurechten Instituts für Staatspolitik den »Appell der 100« unterzeichnet.

Höcke muss sich auf das Spiel seiner Gegner nicht einlassen. Er prägt die Partei längst, ohne den Bundesvorsitz innezuhaben.

Jongen hält es beispielsweise für unklug, die »nach wie vor großen regionalen Unterschiede in Deutschland auszublenden«. Im Westen besteht kein Interesse an einem »Thüringer Weg« hin zu einer Lega Ost. Deshalb ist das Vorhaben, Höcke zu einer Kampfkandidatur herauszufordern, nicht völlig abwegig. Die AfD hat im Osten zwar ihre Hochburgen, doch selbst in Sachsen kann von einer flächen­deckenden kommunalen Verankerung kaum die Rede sein. Die AfD ist generell ein politischer Stimmungsverstärker mit einem niedrigen Organisationsgrad. In den mitgliederstärkeren Landesverbänden im Westen wird der Streit über den »Flügel« besonders scharf ausgefochten. In Schleswig-Holstein wurde Höckes Verbündete Doris von Sayn-Wittgenstein nur mit denkbar knapper Mehrheit als Landesvorsitzende wiedergewählt.

Höcke muss sich auf das Spiel seiner Gegner allerdings nicht einlassen. Er prägt die Partei längst, ohne den Bundesvorsitz innezuhaben. Seine einstige Intimfeindin Alice Weidel hat mit ihm jüngst vereinbart, wechselseitige öffentliche Angriffe zu unterlassen. Stilkritiker wie Jongen fordern kaum mehr als »eine andere Wortwahl und ein anderes Auftreten«. Inhaltliche Einwände sind die Ausnahme. Auch Meuthen spricht nicht nur im Wahlkampf längst die Sprache des »Flügels«. Der thürin­gische Landesvorsitzende hat bisher jedes Ausschlussverfahren überstanden. Die ehemaligen Parteivorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry wollten den Mitgliedern par ordre du mufti den rechten Weg verordnen. Höcke tritt stattdessen als Bauchredner der Parteiseele auf und richtet den Zorn gegen »die da oben« – auch in den eigenen Reihen.

Derzeit ist dieser Stil umstritten. Aber Kritikern wie Meuthen dürfte die Selbstgewissheit bereits vergangen sein. Er wurde von seinem baden-württembergischen Ortsverband nicht zum wahlberechtigen Delegierten für den kommenden Bundesparteitag gewählt und wohl auch wegen seiner Distanz zum Schattenvorsitzenden der AfD abgestraft. Offenkundig ist es Höcke und seinen Anhängern gleichgültig, wer unter ihnen den Bundesvorsitz verwaltet. Und nicht wenige AfD-Funktionäre aus dem Westen dürften bereits eine parteiinterne Jagdsaison fürchten – spätestens nach den Landtagswahlen.