Small Talk mit Irfan Ortaç

»Den Genozid in seiner Gesamtheit verfolgen«

In der vergangenen Woche stellte der »Dachverband des Ezidischen Frauenrats« Strafanzeige gegen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) wegen Straf­vereitelung im Amt. Die Organisation wirft der Bundesregierung unter anderem vor, »aus Rücksicht auf die türkische Regierung auf eine Strafverfolgung der Täter« des »Islamischen Staats« (IS) zu verzichten. Die jihadistische Miliz verübte 2014 im Irak einen Genozid an den Eziden. Der Zentralrat der Eziden in Deutschland hat das Vorgehen des Dachverbands kritisiert. Irfan Ortaç, der Vorsitzende des Zentralrats, hat mit der Jungle World gesprochen.

Weshalb halten Sie die Strafanzeigen gegen Seehofer und Barley für falsch?
Wir halten diese Strafanzeigen nicht für zielführend. Deutsche Regierungsvertreter haben es nicht verdient, in dieser Sache strafrechtlich belangt zu werden. Es wird suggeriert, sie würden gefangenen ehemaligen IS-Kämpfern bewusst helfen. Das ist falsch. Das Vorgehen der Bundesregierung kann man zweifellos kritisieren und das tun wir seit Monaten. Aber wir weisen sie darauf hin, was unserer Ansicht nach der richtige Weg in der Sache wäre.

Gibt es Verbindungen zwischen dem Dachverband des Ezidischen Frauenrats und dem Zentralrat der Eziden?
Wir kennen die Organisation nicht. Bis vor kurzem war sie mir völlig unbekannt.

Der Dachverband beschuldigt die Bundesregierung, aus Rücksicht auf die Türkei auf die Strafverfolgung ehemaliger IS-Kämpfer zu verzichten. Was halten Sie von diesem Vorwurf?
Das sind Spekulationen. Wenn man eine Strafanzeige stellt, sollte man Belege haben. Zu keiner Zeit hat ein deutscher Regierungsvertreter gesagt, man verzichte aus Rücksicht auf die Türkei auf die Strafverfolgung.

Welches juristische Vorgehen halten Sie im Fall ehemaliger IS-Mitglieder mit deutscher Staatsbürgerschaft für sinnvoll?
Deutsche Staatsbürger haben sich dem IS angeschlossen, um zu morden, zu vergewaltigen, zu zerstören – und genau das haben sie auch getan. Da deutsche Staatsbürger schwerste Straftaten begangen haben, ist der deutsche Staat verpflichtet, die strafrechtliche Verfolgung einzuleiten. Er darf nicht darauf warten, dass irgendjemand ihm Beweise vorlegt. In Einzelfällen zu sagen, die Vertreter der Eziden müssten Beweise vorlegen, ist nicht fair. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden müssen – in Zusammenarbeit mit uns, mit Institutionen im Irak, mit den US-Amerikanern – jeden Straftäter verfolgen. Zudem muss dieser Genozid an den Eziden nicht nur in Einzelfällen, sondern in seiner Gesamtheit verfolgt werden. Nicht nur diejenigen, die den Abzug betätigt haben, sondern auch die Hintermänner und militärischen, politischen und logistischen Unterstützer müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Wie ist die Lage für Eziden in Syrien und im Irak zurzeit?
Die Lage ist sowohl in Syrien als auch im Irak ­katas­trophal. Wir vermissen immer noch mehr als 2 700 Menschen. In Syrien müssen Ezidinnen und Eziden in Flüchtlingscamps ausharren, in denen sie nur das Notwendigste erhalten. Der Irak nimmt seine eigenen ezidischen Staatsbürger aus unbekannten Gründen nicht zurück. Und die Situation für die Eziden im Irak selbst ist ebenfalls sehr schlecht. Auch dort müssen sie weiterhin in Lagern hausen, obwohl der IS als besiegt gilt. Niemand redet über eine Rückkehr der Menschen in ihre Herkunftsorte. Und niemand verliert ein Wort darüber, dass ihre zerstörten Städte und Dörfer wieder aufgebaut werden müssen.