Europa vor der Wahl

»Die Mehrheit ist proeuropäisch«

Die Rechtspopulisten könnten zu den großen Gewinnern der Europawahl gehören. Doch die Zustimmung zur Europäischen Union wächst wieder, sagt der Politikwissenschaftler Frank Decker.
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Oft ist in Bezug auf die anstehende Europawahl von einer Schicksalswahl die Rede. Der französische Präsident Emmanuel Macron sprach sogar von einer Entscheidungsschlacht der Progressiven gegen die Nationalisten. Ist die anstehende Wahl tatsächlich so ausschlaggebend für die Zukunft Europas?
Ich halte es nicht für sehr klug, wenn die proeuropäischen Kräfte diese Wahl zu einer Schicksalswahl stilisieren. Damit tragen sie selbst dazu bei, dass sich der Wettbewerb auf die Frage konzentriert, ob man für oder gegen Europa ist, statt darüber zu streiten, wie die EU verfasst sein und welche Politik sie verfolgen soll. Das spielt den EU-Gegnern in die Hände. Natürlich muss man sich von diesen abgrenzen. Genauso wichtig ist es aber, dass die Wähler erkennen, welche Unterschiede zwischen den proeuropäischen Parteien bestehen.

Die Frage ist ja nicht nur, ob man für oder gegen Europa stimmen soll, sondern auch für oder gegen bestimmte Parteien. Viele wollen ihre Europawahlentscheidung für eine Partei vor allem an der Ablehnung anderer Parteien orientieren. In ­einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Europawahl wird die These aufgestellt, dass die negative Parteienidentität ausschlaggebend für die Wahlentscheidung sei. Ist das plausibel?
Ein zunehmender Anteil von Wählerinnen und Wählern agiert so. Aber wir werden bei der Europawahl sehen, dass sie bei weitem nicht in der Mehrheit sind. Die Mehrheit liegt nach wie vor bei den proeuropäischen Kräften, auch wenn die EU-Gegner mit einem Stimmenzuwachs rechnen können. Gerade in jüngster Zeit ist die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes in den meisten europäischen Staaten wieder gestiegen.

Und trotzdem wächst die Skepsis – nicht nur gegenüber der EU als Institution, sondern auch gegenüber der Demokratie. Werden solche Einstellungen der EU schaden?
Die EU hat ja selbst ein Demokratieproblem, mittlerweile sogar ein doppeltes. Zum einen auf der europäischen Ebene selbst, weil die Menschen oft gar nicht wissen, wen sie wählen, und sie auch keine Entscheidungen über die Grundrichtung europäischer Politik fällen können. Die Entscheidungs­prozesse in Brüssel sind nicht transparent. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Demokratie- und Rechtsstaatsdefizite in einzelnen Mitgliedsländern der EU – Polen oder Ungarn sind hier die prominentesten Beispiele. Die Menschen erfahren, dass unter dem Druck der Globalisierung der Wohlstand in den Gesellschaften immer ungleicher verteilt wird. Warum sollten diejenigen, die sich zu den Verlierern dieser Entwicklung zählen, die Parteien unterstützen, die sie für diese Entwicklung verantwortlich machen? Dennoch wenden sich die Menschen nicht von der Demokratie als solcher ab. Die demokratischen Prinzipien werden nach wie vor mehrheitlich geteilt, die Menschen sind aber unzufrieden damit, wie die Demokratie tatsächlich funktioniert und welche Ergebnisse sie produziert.

Im vergangenen Jahrtausend hat, wer den Wohlstand gerechter verteilen wollte, häufig sozialdemokratisch gewählt. Gerade diese Parteien scheinen aber nun die großen Verlierer zu sein.
Das muss man abwarten. Weil die Briten jetzt doch mitwählen, werden die Stimmenverluste der Sozialdemokraten nicht ganz so groß ausfallen wie ursprünglich erwartet. Auch in den südeuropäischen Ländern gibt es eine starke Linke, während Rechtspopulisten und Nationalkonservative vor allem in den west-, nord- und mittelosteuropä­ischen Mitgliedsländern erfolgreich sind. Die Schwäche der Sozialdemokratie in Kernländern wie Deutschland oder Frankreich spiegelt sich natürlich auch auf europäischer Ebene wider. Die Sozialdemokraten sind in den identitätspolitischen Fragen gespalten. Gleichzeitig haben sie in der Sozial- und Wirtschaftspolitik einen Vertrauensverlust erlitten, weil sie sich selbst an neoliberalen Reformen beteiligt haben. Deshalb verlieren sie ihre Wähler nach allen Seiten.

Der Aufstieg populistischer Parteien wird häufig auf einen solchen Vertrauensverlust zurückgeführt und auf einen empfundenen Mangel an Repräsentation. Reicht das, um den Erfolg zu erklären?
Die eigentliche Frage lautet ja, woher die Repräsentationskrise rührt und in welcher Hinsicht die Wähler sich von den »Mainstream«-Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Letztlich kommen hier zwei große Themen zusammen: die Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstands und die Frage der kulturellen Zugehörigkeit oder Identität. Es gibt in der Forschung einen Streit darüber, was die wichtigere Motivation für die Wahl von Rechtspopulisten ist. Dass die AfD in wirtschaftlich schwachen Regionen überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt, scheint auf den ersten Blick eher für die ökonomische Erklärung zu sprechen. Fragt man nach den Einstellungen der Wähler gegenüber Migranten oder anderen Minderheiten, kommt die starke Bedeutung der identitätspolitischen Themen zum Ausdruck. Hier zeigt sich auch der Zusammenhang mit Europa, weil die europäische Politik gleichermaßen mitverantwortlich gemacht wird für Verteilungsungerechtigkeiten und für unerwünschte Zuwanderung. Weil uns all diese Themen erhalten bleiben werden, wird auch der Rechts­populismus so schnell nicht wieder verschwinden.

Kann diese »Internationale der Nationalisten« auf ­europäischer Ebene überhaupt gemeinsam agieren?
Es gibt da schon eine gemeinsame ideologische Basis, nämlich die Absage an eine weitere Vertiefung der EU und das Eintreten für eine christlich-abendländische, europäische Identität, deren Gegenbild die kulturell fremden Muslime sind. Jenseits dessen gibt es aber auch starke nationale Orientierungen, die eine Zusammenarbeit erschweren oder sogar unmöglich machen. Beispielsweise wird die prorussische Ausrichtung der AfD und der Lega von den mittelosteuropäischen Vertretern nicht geteilt. In wirtschaftlicher Hinsicht gibt es wiederum deutliche Interessenunterschiede ­zwischen den nord- und den südeuropäischen Ländern. Ob die Rechtspopulisten sich unter diesen Vorzeichen im EU-Parlament zu einer gemeinsamen schlagkräftigen Fraktion zusammenschließen können, bleibt fraglich. Für wahrscheinlicher halte ich, dass es bei der jetzigen Situation bleibt und sie sich auf mehrere Fraktionen verteilen.

Was wird die größte Herausforderung für die EU in der kommenden Legislaturperiode sein?
Die proeuropäischen Parteien weichen unter dem Druck der Europa-Gegner ängstlich zurück. Durch diese Mutlosigkeit gibt es keine Konkurrenz um neue Ideen und Entwürfe, die nach vorne weisen und die europäische Integration weiterentwickeln. In den nächsten fünf Jahren dürfte es weiterhin vorrangig um eine Konsolidierung gehen, also das Ziel, den europäischen Laden zusammenzuhalten und einen Zerfall der Europäischen Union zu verhindern. Das ist ja auch in den vergangenen Jahren bereits gelungen – der »Brexit« hat keine Nachahmung gefunden und auch in anderen Fragen, etwa der Sanktionspolitik gegen Russland, haben sich die EU-Partner nicht auseinanderdividieren lassen. Dennoch dürfte ein so defensiver Ansatz kaum ausreichen, um die Handlungsfähigkeit der EU nennenswert zu verbessern und ihr bei den Bürgern wieder mehr Akzeptanz zu verschaffen.

Frank Decker ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und forscht zu Rechtspopulismus im internationalen Vergleich.