11.04.2019
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern

Antisemitismus fällt aus der Statistik

In Bayern ist Antisemitismus für Jüdinnen und Juden ein »alltagsprägendes Phänomen«, stellte eine Studie fest. Doch die meisten antisemitischen Vorfälle bleiben der Öffentlichkeit unbekannt.

Wenn etwa ein Hakenkreuz auf eine Gedenkstätte gesprüht oder jemand aus antisemitischen Motiven attackiert wird, handelt es sich um Straftaten. Manchmal allerdings kommt der Antisemitismus subtiler daher, ohne unbedingt die nötigen Kriterien zu erfüllen, um als Straftat erfasst zu werden. Das können neonazistische Veranstaltungen mit Holocaust-Leugnern sein, antiisraelische Flugblätter, Aktionen der BDS-Kampagne oder Auftritte von Islamisten, die zur Vernichtung Israels auf­rufen.

Im Schnitt werden höchstens 20 Prozent der judenfeindlichen Straftaten überhaupt zur Anzeige gebracht.

Wenn es sich nicht um strafrechtlich relevante Vorfälle handelt, dokumentieren die Behörden antisemitische Erscheinungen nicht. Zudem gibt es ­keine staatlichen Stellen, an die sich Jüdinnen und Juden wenden können, die mit Fällen von Antisemitismus konfrontiert sind, für die sich Polizei und Staatsanwaltschaft nicht interessieren. In Berlin übernimmt diese Aufgabe seit 2015 die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias Berlin). Auf der Website der Organisation können antisemitische Vorfälle ­aller Art gemeldet werden. Sie werden dann ausgewertet und dokumentiert, um einen realistischen Überblick über das Ausmaß des Problems zu erhalten.

Am 1. April hat der bayerische Ableger der Einrichtung seine Arbeit offiziell aufgenommen. Der Ausgangspunkt war die »Problembeschreibung: Antisemitismus in Bayern«, die die Rias Berlin 2017 erarbeitet hatte. Als Grundlage für die Erhebung dienten insgesamt 20 Interviews mit Jüdinnen und Juden, die sich in einer Gemeinde oder einer anderen Institution engagierten. Die Autorinnen und Autoren der Studie stellten fest, dass Antisemitismus im Freistaat ein »alltagsprägendes Phänomen« sei. »Jüdinnen und Juden in Bayern werden, so legen es die Schilderungen der Befragten in jüdischen Gemeinden und Institutionen nahe, regelmäßig mit Antisemitismus in unterschiedlichen, alltäglichen Situationen konfrontiert: in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Spazierengehen, beim Einkaufen, im ÖPNV«, so der Bericht.

Die 219 antisemitischen Straftaten, die die bayerischen Behörden 2018 erfassten, sind nur ein kleiner Teil dieses Problems. Denn im Schnitt werden den Schätzungen verschiedener Studien zufolge höchstens 20 Prozent der antisemitischen Straftaten überhaupt zur Anzeige gebracht. Erst wenn man die offiziell erfassten Delikte, die nicht angezeigten Taten und die antisemitischen Vorfälle, die keinen Straftatbestand erfüllen, gemeinsam dokumentieren könnte, erhielte man also wenigstens einen ungefähren Eindruck davon, welche Dimensionen das Phänomen tatsächlich hat.

Aus dieser Notwendigkeit heraus, sagt Felix Balandat von der Rias Bayern, sei der Ableger im Freistaat entstanden. Träger ist zunächst der Bayerische Jugendring, das Geld kommt vorerst aus dem bayerischen Sozialministerium, ab 2020 soll ein Verein die Trägerschaft übernehmen. Antisemitische Vorfälle können im Internet gemeldet werden; Mitarbeiter der Rias prüfen die Angaben auf ihre Plausibilität. Die Erkenntnisse sollen in einem jährlichen Bericht zusammengefasst werden.

Die Einrichtung soll auch ein niederschwelliges Angebot für verunsicherte und besorgte Betroffene bieten. Wer etwas meldet, entscheidet, wie die Rias mit den Informationen umgeht, also beispielsweise, ob sie öffentlich gemacht werden. »Das ist ein Bedarf, der da ist«, sagt Balandat. »Es gibt bisher einfach keine Dokumentation von Antisemitismus, zumindest nicht so umfassend, wie wir es machen möchten.« Um eine direkte Beratung für Menschen, die mit antisemitischen Vorfällen konfrontiert waren, gehe es jedoch nicht. Auf Wunsch könne man Kontakt zu geeigneten Stellen vermitteln, die weitere Unterstützung anbieten.

Die Arbeit selbst sei milieuübergreifend ausgerichtet, so Balandat, sie ­solle den Antisemitismus aller Richtungen gleichermaßen erfassen – ganz egal, ob er von rechter, linker, bürgerlicher oder islamistischer Seite komme. Die Dokumentation des Bereich, der nicht strafrechtlich relevant ist, bietet auch einen großen Vorteil gegenüber staatlichen Erfassungssystemen. Balandat formuliert es so: »Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist dazu da, Kriminalität abzubilden. Wir sind dazu da, Anti­semitismus abzubilden.«

Zudem sind die Behörden selbst nicht frei von Antisemitismus. Mitte März wurde im Zuge von Ermittlungen bekannt, dass Mitglieder des Münchner Unterstützungskommandos (USK), einer polizeilichen Spezialeinheit, in einer Whatsapp-Gruppe untereinander antisemitische Youtube-Videos verschickt hatten. Zu der Gruppe gehörten neben 40 USK-Beamten auch Polizisten anderer Dienststellen. Sechs beamte wurden mittlerweile suspendiert, neun wurden versetzt.