Die Identitätspoilitik und ihre Kritiker

Sag bloß nicht Identität

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Das Problem mit diesem Argument ist, dass es diesen »soften Patriotismus« längst gibt. Er schallt uns von überall entgegen und bestimmt auch die Rhetorik der linken Mitte. Kaum ein Po­litiker hat den nationalen Zusammenhalt beschworen wie Barack Obama; auch in Deutschland ist immer wieder von Zusammenhalt und Leitkultur die Rede – der rechte Backlash kam trotzdem.

Identitätspolitik entsteht nicht aus einer Laune heraus, sondern ursprünglich als Reaktion auf Diskriminierung – auf die Identitätspolitik der Mehrheitsgesellschaft, um genau zu sein. Deutsche, deren Großeltern als Gastarbeiter in dieses Land kamen, können inzwischen auf Jahrzehnte der rassistischen Ablehnung zurückblicken, die ihre ­Familien in Deutschland erfahren haben. Die Identität als »Ausländer« ­haben sie sich nicht ausgesucht, sie wurde ihnen aufgedrückt und sie ist eine Last, kein bequemer »Schild, hinter dem man sich verschanzen und angegriffen fühlen kann«, wie Strauß schreibt.

Es geht nicht darum, sich prinzipiell für oder gegen die Identitätspolitik zu positionieren. Es gibt durchaus gute und auch gute linke Gründe, manche Formen der Identitätspolitik zu kritisieren. So ­besteht vor allem im postkolonial inspirierten ­Diskurs das Risiko eines »Essentialismus durch die Hintertür«, der dann doch wieder nur von klar abgegrenzten, homogenen Kulturkreisen und »Communities« spricht. Auch gibt es eine Spielart der eher moderat-liberalen Identitätspolitik, die zwar viel Energie darauf verwendet, subtilen Rassismus in zwischenmenschlichen Interaktionen und Fernsehserien aufspüren, aber kaum Interesse daran zeigt, strukturelle Ungleichheiten zu bekämpfen.

Während der Amstzeit Obamas konnte der liberale Antirassismus in den USA eine beachtliche kulturelle Hegemonie erlangen, ohne dass sich die ökonomische Situation der Afroamerikaner auch nur ein klein bisschen verbessert hätte. Da muss man sich die Frage stellen, ob die identitätspolitische Gerechtigkeit in ihrer weichgespülten Form nicht ein bloßes Surrogat ist, das dazu dient, sich um soziale Probleme nicht kümmern zu müssen. Denn dies erfordert viel radikalere Antworten, als sie der »progressive Neoliberalismus« bieten kann. Auch in Deutschland ist die Marginalisierung von Migranten und ihren Nachkommen zu einem nicht geringen Teil eine ökonomische; wer sie wirksam bekämpfen will, darf von Mindestlohn, Arbeitsrechten und sozialer Spaltung im Bildungswesen nicht schweigen.

Man findet bei Linksliberalen zudem gelegentlich überbordenden Mora­lismus. Der linke Kritiker Mark Fisher prägte den Begriff des »Vampire Castle« für die linksliberale Obsession, auf die kleinsten moralischen Grenzüberschreitungen zu lauern und sie dann mit großer Lust zu bestrafen. Das ist nicht nur unangenehm, weil Moralismus eben unangenehm ist, es ist auch politisch kontraproduktiv: »Theoretisch beansprucht man für sich, struktu­relle Kritik zu betreiben«, schrieb Fisher über dieses Phänomen. »Praktisch ­befasst man sich aber nie mit etwas anderem als individuellem Verhalten.«

Selbstverständlich ist eine diskriminierungsfreie Gesellschaft noch keine befreite Gesellschaft – wenn auch letztere unbedingt ersteres zu sein hat. Mit wie viel Energie heutzutage gegen Rassismus demonstriert wird – etwa bei der großen #Unteilbar-Demonstration in Berlin –, während die Abschaffung von sozialen und ökonomischen Hierarchien weiterhin ein Minder­heitenanliegen bleibt, zeigt unter anderem, wie sehr der »kapitalistische Realismus« immer noch die Gegenwart bestimmt. Das alles ist jedoch kein ­Argument gegen Identitätspolitik, sondern für den Sozialismus.

An Autoren wie Simon Strauß und Mark Lilla deprimiert nicht ihre belanglose Kritik der Identitätspolitik, sondern die völlig unambitionierte, liberale Denkweise, die hinter ihren Texten steckt. Man erkennt leicht das Wunschdenken arrivierter Intellektueller, die mit der Welt, wie sie ist, völlig konform sind, und sich alle politischen Konflikte einfach wegwünschen.

Politik muss, wenn sie irgendwas bedeutet, nicht »das Gemeinsame suchen«, wie Strauß schreibt, sondern die Antagonismen in unserer Gesellschaft offenlegen und ausfechten. ­Politische Konflikte stillzulegen, indem man alle citoyens zum gleichberech­tigten, ergebnisoffenen Plaudern zusammenruft, ist der versteckte Wunsch von Strauß und Seinesgleichen. Dementsprechend banal sind die politischen Rezepte, die stets am Ende ihrer Texte lauern: »Das Verbindende betonen«, »kulturelle Spaltungen überwinden«, und ja, auch etwas mehr Sozialpolitik würde nicht schaden. In anderen ­Worten: Wenn man die plattesten Allgemeinplätze bürgerlicher Politik noch einmal bekräftigt, dann wird alles gut.

Hinter den immer gleichen Lösungsvorschlägen steht die Weigerung, sich mit den tatsächlichen Problemen zu befassen. Warum nimmt die soziale Ungleichheit in allen westlichen Gesellschaften seit den siebziger Jahren zu? Hat das etwas mit der fundamentalen Dynamik des Kapitalismus zu tun? Ist eine Rückkehr zur sozialdemokra­tische Umverteilungspolitik der Nachkriegszeit überhaupt möglich, ohne die Grundlagen der Wirtschaft fundamental zu verändern? Folgt man diesen Fragen, verlässt man das Reich der Feuilletondebatten und beginnt, ernsthaft über die Gesellschaft nachzudenken.