Die Dokumentation »Unser Team – Nossa Chape« erzählt vom Flugzeugabsturz, bei dem fast die komplette Mannschaft ums Leben kam

Das Trauma beenden

Der brasilianische Fußballclub Chapecoense erlaubte Dokumentarfilmern nach dem Tod der meisten seiner Spieler bei einem Flugzeugabsturz, den Neubeginn des Vereins zu beobachten. Die Dokumentation kommt fast ohne Voyeurismus aus.

Am Anfang steht die Katastrophe: Die Mannschaft des brasilianischen Erstligisten Chapecoense, eines eher kleinen Fußballvereins aus der süd­lichen Provinzstadt Chapecó, machte sich auf den Weg zum Finale der Copa Sudamericana nach Medellín in Kolumbien. Handyaufnahmen zeigen die euphorischen Spieler noch kurz vor dem Abflug und etwas ­später in der Maschine. Jeder, der im Herbst 2016 die Nachrichten verfolgt hatte, weiß, dass sie ihr Ziel nicht erreichen sollten: Am 28. November stürzte das Flugzeug kurz vor dem Flughafen Medellín in den Bergen ab. Die Fluggesellschaft hatte aus Profitinteresse systematisch zu wenig Treibstoff getankt. 71 der 77 Menschen an Bord starben, darunter fast die komplette Mannschaft von Chapecoense.

Fußball ist ziemlich klein hier. Aber auch in Chapecó hat er keine Zeit, stehenzubleiben. Zu Beginn reiht das neue Team Niederlage an Niederlage. Und Chapecoense scheint zu begreifen, dass man nicht ewig zurückschauen kann. Neue Helden müssen künftig die riesigen Schatten der ­alten verdrängen, das Trauma soll verschwinden.

Die Dokumentation »Unser Team – Nossa Chape« (Unser Chape) beginnt emotional und wuchtig. Kerzenmeer, Gebete, Tausende weinender Fans und Angehörige im Stadion; kaum festzustellen, wer die Toten kannte und wer nicht, und das ist selbstverständlich gewollt. Mehrere Witwen erzählen von der Nacht des Unglücks; der Abwehrspieler Neto, einer der sechs Überlebenden, erinnert sich, wie er auf dem Weg zum Krankenhaus nach den Namen der Teamkollegen fragte, und immer nur hörte: »Der lebt nicht mehr. Der ist von uns gegangen.« Bis auf wenige Stellen, deren Verwendung sich die Macher offenbar nicht verkneifen konnten – »Wir werden unser Leben für dieses Spiel geben«, kündigte einer der umgekommen Spieler vor dem Absturz an –, ist dieser herausragenden Dokumenta­tion Voyeurismus völlig fremd. Und der Absturz als Ereignis interessiert sie tatsächlich wenig. Das Unglück und die kathartische Trauerfeier ­bilden eher den Hintergrund für ganz andere Fragen: Wie beendet man eigentlich ein Trauma? Und ist es irgendwann mal vorbei mit der Trauer?

Die Brüder Michael und Jeff Zimbalist, unter anderem bekannt geworden mit der politischen Fußballdokumentation »The Two Escobars«, erhielten nach dem Absturz bis zum Sommer 2017 erstaunlich unge­filterten Zugang zum Innersten des Clubs. Man darf vermuten, dass das auch dem Chaos dieser Monate geschuldet war. Für den völlig zerstörten Verein gab es nicht mehr viel zu verlieren, und möglicherweise auch einfach keine Zeit, das Für und ­Wider einer solch engen Begleitung nach einer Tragödie zu diskutieren. »Nossa Chape« zeigt also über weite Strecken, was beim Spitzenfußball für Außenstehende verborgen bleibt, nämlich das intimste Innere eines Profivereins: Telefonate über Spielerverpflichtungen etwa; die Prügelei zweier frustrierter Kicker in der Kabine; naiv anmutende Besprechungen über die Pressestrategie. Gelegentlich sind auch Privataufnahmen der ­alten Mannschaft zu sehen, auf denen die Profis einander Geburtstagstorten überreichen oder mit den Ehefrauen tanzen. Aus solcher Nähe aufgenommen wirkt das Milliarden­geschäft Fußball familiär und unglamourös. Die Kicker sind Provinzjungs, mit ­religiösen Tattoos und Kleinfamilien, entsprechen nicht Panini-Glanzbildern. Aber heil ist dieser Verein selbstverständlich nicht.

Nach dem Absturz bekam Chapeco­ense weltweite Solidarität: Posthum wurden die Spieler zu Siegern der Copa Sudamericana erklärt, der Klub erhielt die zwei Millionen US-Dollar Preisgeld, und die brasilianischen Erstligisten unterstützten den Verein mit kostenlos ausgeliehenen Spielern. Schnell erkannte Chapecoense allerdings auch das Potential, die Überlebenden zu seinen Vereinshelden zu machen, etwas unschuldig, etwas kalkuliert. Von den drei überlebenden Spielern erkämpften sich zwei – die Defensivspieler Neto und Alan Ruschel – die Aussicht, eines ­Tages auf den Platz zurückzukehren. »Die ganze Welt wird von ihrem Comeback bewegt sein«, sagt der neue Trainer Vágner Mancini in ­einer Szene. Er meint es offensichtlich gut, er will den Jungs diesen ­Moment schenken, aber zugleich ist da ein unangenehmer Beigeschmack. Im Fußball lässt sich alles kapitalisieren, auch die Katastrophe.

Den Gebrüdern Zimbalist gelingt es, die Spannungen einzufangen, als der traumatisierte Verein die Über­lebenden zu seinem Aushängeschild macht. Einmal sitzen die drei zusammen, die Narben in den Gesichtern zeugen noch vom Absturz, ihre Traumata bekämpfen sie beim Therapeuten, sie quälen sich mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, während die anderen starben – und dann kommt eine lächerliche Werbekampagne. »Ich wusste von Anfang an, dass sie uns als Helden benutzen würden«, sagt Neto da verbittert. »Ich will nicht wegen einer Tragödie berühmt werden.« Wenige Augenblicke später treten die Kicker vor die Pressekameras, sie haben ein falsches, strahlendes Lächeln aufgesetzt. Es ist ein starker Moment der Dokumentation.

Der Film urteilt wenig. Es ist eher eine empathische Studie, hier gibt es keine bad guys, sondern Menschen, die sich bemühen weiterzumachen. Immer wieder zeigt der Film kleine Details aus dem religiösen Alltag: den kleinen Altar in der Kabine, der schon vor dem Crash dort stand; den Rosenkranz, den eine Witwe der Frau eines Überlebenden schenkt, das gemeinsame Vaterunser vor den Spielen. Verteidiger Neto, der überlegte, nicht mehr in den Fußball zurückzukehren, bekommt von seiner Frau eine simple Zurechtweisung: »Wenn Gott nicht wollte, dass du Fußball spielst, hättest du einen Arm oder ein Bein verloren.« Gott wird es schon wissen. Und Neto trainiert wieder.

Fußball ist ziemlich klein hier. Aber auch in Chapecó hat er keine Zeit, stehenzubleiben. Zu Beginn reiht das neue Team Niederlage an Niederlage. Und Chapecoense scheint zu begreifen, dass man nicht ewig zurückschauen kann. Neue Helden müssen künftig die riesigen Schatten der ­alten verdrängen, das Trauma soll verschwinden.

Neben den Spielern sind es vor allem die Witwen, die diesen Film tragen. Die, die man sonst herabwür­digend Spielerfrauen nennt, treten hier als Menschen in Erscheinung: Verzweifelte, die mit Schlafstörungen und Angst ringen, Kämpferinnen, die plötzlich allein ihre Familien versorgen müssen, und Zurückgelassene, die ernüchtert feststellen, dass sich Chapecoense vorwärts bewegt, während ihr eigenes Leben stillsteht. ­Einige werden im Verlauf des Films den Verein verklagen. »Der Klub ­profitiert vom Tod unserer Männer«, sagen sie. Und bleiben doch, weil der Verein auch Familie ist. Wen haben sie denn sonst noch?

Viel emotionales Material bekamen die Zimbalists gewissermaßen frei Haus geliefert. Ihre große Leistung ist es, die Brüche erkannt zu haben, die darin stecken. Etwa, wenn dieselben Fans, die wenige Wochen zuvor noch die Toten beweinten, nach einer Niederlagenserie die neue Mannschaft beschimpfen und den Rücktritt des Trainers fordern. Geradezu absurd mutet das an. Wie die neuen Spieler das alte Team nur vergessen wollen und es zugleich glorifizieren. Die Neuen sollen die Wunden einer ganzen Stadt heilen und werden erdrückt davon. Coach Mancini, ein anständiger Kerl zur falschen Zeit am falschen Ort, erkennt das Problem, und zieht in einer Kabinenrede einen Schlussstrich: »Lasst uns nicht mehr an die Ver­gangenheit denken. Niemand möchte mehr ›armes Chape‹ hören!« Aber kann man den Menschen in diesem Verein einfach so befehlen, nicht mehr traumatisiert zu sein?

Die Witwen, die Eltern der verstorbenen Spieler, die Überlebenden, die Mitglieder des ehemaligen Kaders, die den Flug nicht antraten: Man ahnt die vielfältigen Konflikte, die unter der Oberfläche weiter gären. Trotz und wegen alledem bleibt Chape sympathisch. Manchmal sind alle im Glück vereint, etwa als Alan Ruschel es tatsächlich auf den Platz zurückschafft. »Nicht nervös werden«, sagt er schelmisch vor seinem Comeback in einem Testspiel zu Lionel Messi. Aber letztlich verweigert der Film richtigerweise die übliche Idee, nach der ein solches Drama mit einem großen sportlichen Triumph enden müsste. Der Triumph ist in unerwarteter Weise die Konfrontation. Oder wie es der Spieler Alejandro Martinuccio formuliert: »Man kann ein neues Kapitel erst beginnen, wenn man das alte abgeschlossen hat.«

 

Unser Team – Nossa Chape (USA 2018). Regie: Jeff Zimbalist, Michael Zimbalist. Kinostart: 28. März