Eine Liebeserklärung ans Eisbaden

Kontemplatives Eisbaden

Manchmal badet unsere Autorin am 1. Januar an und am 31. Dezember ab – aber hin und wieder ist es selbst ihr zu kalt.

Bereits als Kind erlegte ich mir Baderegeln auf. Aufgewachsen mitten in der sogenannten Holsteinischen Schweiz, in der Kleinstadt Plön, die hauptsächlich aus Wasser besteht – der Rest ist kaum der Rede wert –, galt ich, schon bevor ich laufen konnte, als Wasserratte. Trotz blaugefrorener Lippen bin ich immer wieder zum Seeufer zurückgekrabbelt. Bald darauf legte ich fest, dass ich allerspätestens an meinem Geburtstag, dem 1. Juni, in einem der unzähligen heimischen Seen angebadet haben musste – was aus heutiger Sicht lasch klingt, aber es gab recht kühle Junitage im hohen Norden. Dennoch verlegte ich den Termin bald auf den 1. Mai.

Inzwischen bade ich manchmal am 31. Dezember ab und am 1. Januar an – wenn ich dann gerade an einem annehmbaren Gewässer bin. Ich nenne es den Plön-Fluch, immer wieder an die sauberen Seen oder die nahegelegene Ostsee zurückkehren zu müssen. Zupass kommt mir, dass es um den Jahreswechsel dank des Klimawandels in den vergangenen Jahren eher mild ist.

Wenn ich einen See oder das Meer sehe, zieht mich das Wasser magisch an, sommers wie winters. Spätestens wenn ich andere an kalten Tagen baden sehe, passiert es: Der Beweis, dass man es überleben kann, ist erbracht, ich muss es ihnen also gleichtun. Ich erinnere mich noch an die Schmach im südfinnischen Hanko, wo das Wasser mitten im Juli so kalt war, dass ich nicht mal einen Fuß hineinstecken mochte, aber die Finnen seelenruhig ihre Bahnen zogen, so dass ich unter Schmerzensschreien zum Eintauchen gezwungen war. Oder an meine unbändige Bewunderung für einen alten Polen, der sich bei minus 16 Grad Lufttemperatur am Strand von Sopot in die Fluten stürzte – an Nachahmung war nicht zu denken.

Ich halte mich am liebsten an die auffallend vielen älteren Frauen, die still ihre Kreise ziehen, und lobe mir das kontemplative Baden zusammen mit Haubentauchern und Gänsesägern – obwohl auch in der Natur Trottel am Wegesrand auftauchen.

In Plön gibt es ein paar Frauen, die das ganze Jahre hindurch baden. Eins meiner Vorbilder ist Valentina aus Belarus, die eine wilde Badestelle am Schöhsee eigenhändig mit einer Treppe ausgebaut und ein Bänkchen zum Umkleiden bereitgestellt hat. Während ich bisher bei Temperaturen unter sieben Grad nur kurz eintunke und hektisch herumzappele, zieht es sie weiter hinaus.

Die eiskalte Mutprobe hat dank idealer Wetterbedingungen in Finnland und Russland Tradition. Russisch-orthodoxe Christen pflegen sich an Epiphanias im Januar von ihren Sünden reinzuwaschen, indem sie sich in kreuzförmige Löcher im Eis versenken.

Einen Trick habe ich von den Profis gelernt: schnurstracks reingehen, ohne nachzudenken und zu zaudern (keinesfalls aber per Hechtsprung). Wer erst den großen Zeh ins Wasser steckt, um zu testen, wie kalt es ist, hat schon verloren. Oft bin ich bereits wieder draußen, bevor die Kälte richtig angekommen ist. Neopren oder Sauna als Hilfsmittel? Gilt in meinem Privatregelwerk nicht. Wohl aber darf ich mich vorher warmlaufen.
Heutzutage bilden sonderbare Menschen überall auf der Welt »Outdoor Swimming Societies« und Winterschwimmvereine wie die Berliner Seehunde. Wie immer kann Vereinsmeierei schnell nerven, da preschen dann in den Küstenorten Typen in Clownskostümen unter Kriegsgeschrei lokalmedienwirksam beim »Eisfasching« in die Gischt, und auf Youtube posen reihenweise eiskalte Wer-kann-am-längsten-Wettbewerber. Diente die Methode bereits Gesundheitsaposteln in der Antike zur Abhärtung, Stärkung des Immunsystems und Anregung des Kreislaufs, wurde erst seit den siebziger Jahren ein organisierter Sport ­daraus. Seit 1999 laden nordische Länder zur Winter Swimming World Championship in ein aus einem zugefrorenen See herausgesägtes Becken. Seit 2015 können Enthusiasten bei den Ice Swimming German Open auch hierzulande um den Weltrekord über 1 000 Meter Eiswasser kämpfen. Das Harte-Kerle-Magazin Fit for Fun steht auf diesen »natürlichen Viagra-Ersatz« und erwärmt sich für das Stählprogramm des Extremschwimmers Wim Hof: »Die Kraft der Kälte. Wie du mit der Iceman-Me­thode gesünder, stärker und leistungsfähiger wirst«.

Da halte ich mich lieber an die auffallend vielen älteren Frauen, die still ihre Kreise ziehen, und lobe mir das kontemplative Baden zusammen mit Haubentauchern und Gänse­sägern – obwohl auch in der Natur Trottel am Wegesrand auftauchen, die mit den immergleichen Kommentaren aufwarten: »Sie wollen doch nicht etwa baden? Wollen Sie Eisbärin werden?«

Mittlerweile habe ich gelernt, dass sich auch andere wild swimmers Vorgaben setzen und seltsamen Zwängen unterliegen. Eine Dänin, die sich täglich in der Ostsee erquickt, befolgt strikt die Regel »pro Grad Wassertemperatur ein Schwimmzug«. Wobei man das Ganze auch übertreiben kann, wie selbst der nie frierende Bremer Winterbader Peter Kusenberg einräumte, als seine Badehose, die er gerade auswringen wollte, zu einem Eisblock gefroren war.

Und das Regelwerk kann durchaus manische Formen annehmen. Die britische Künstlerin Vivienne Rickman-Poole sah ihre personal challenge vor ein paar Jahren darin, an jedem der 30 Apriltage in einem anderen See zu schwimmen: »30 Lakes 30 Days«. Zurzeit durchschwimmt sie nacheinander alle 400 Gewässer des walisischen Nationalparks Snowdonia und dokumentiert dies auf ­Instagram (#SwimSnowdonia). An der Unterwasserfotografie, mit der sie ihr Hobby verbindet, gefällt ihr die »Form des weiblichen Körpers im Wasser. Viele meiner Freundinnen sind sehr selbstkritisch, was ihren Körper angeht. Sie mögen es nicht, wenn ich meine Kamera auf sie richte. Im Wasser ist es ihnen aber egal, dort fühlen sie sich anmutig und frei.

Meine Bilder zeigen Menschen in einem glücklichen Schwebezustand.« Das kann ich bestätigen, seit ich mich selbst an einem letzten sonnigen Septembertag des Jahres 2017 als Unterwassermodel für ­Susanne Fischers traumschönen Fotoband »Hauch« zur Verfügung stellte, auch wenn das ausufernde Shooting in der 14 Grad kühlen Ostsee mich an meine persönlichen Bibbergrenzen brachte.

Man kann auch politisch und feministisch kaltbaden statt sportlich. So erobere ich in dem von Fritz Tietz gedrehten Kurzfilm »Kein Barfußbreit den Diek- und Doofmännnern« den vom ehemaligen Bild-Chef­redakteur und Ich-bin-so-frei-Schwimmer Kai Diekmann entweihten, etwa vier Grad kalten Jungfernsee im Potsdamer Problemviertel Berliner Vorstadt zurück.

Noch lieber plansche ich poetisch, zum Beispiel auf den Spuren der dem Wasser zugeneigten Dichter Robert Walser (in seinem Schweizer Seeland) und Horst Tomayer (in der klirrend kalten Amper seiner baye­rischen Heimat) sowie Bertolt Brechts und Helene Weigels (im türkis schimmernden Buckower Schermützelsee).

Die kanadische Umwelthistorikerin Jessica Lee hat ihr »Jahr im Wasser« in einem erfrischenden Schwimmtagebuch (Berlin-Verlag 2017) lite­rarisch verarbeitet. Darin beschreibt die Neuberlinerin ihre Beobachtungen, als sie jede Woche in ein ihr unbekanntes Gewässer in Berlin und Brandenburg eingetaucht ist, und verrät ihre persönlichen Kälteregeln: »Lange genug« drin bleiben, »um aus Schmerz Genuss werden zu lassen. Aber (…) zwei bis vier Minuten sind genug. Und ich zähle meine Züge. Wenn Eis auf dem See ist, zähle ich höchstens bis 45.« Zwischen Schmerz und Taubheit gebe es »eine gesteigerte Empfindung in der Kälte«, durch die man hindurchschwimmen ­müsse. Ich muss noch viel üben. Sich ein Loch ins Eis zu hauen, um freie Bahn zu haben, nennt Lee »the most satisfying activity known to hu­mankind«.

Sie beschreibt nicht nur anschaulich die unterschiedlichen Schmerz­arten (von Nadelstichen bis Messerattacken), sondern auch Färbung und Geruch der Seen je nach Jahreszeit und Wasserqualität. Ich selbst wollte mich immer schon bei »Wetten dass« bewerben, weil ich sicher bin, das wunderbar weiche Wasser meines Kindheitssees unter tausend anderen erkennen zu können. Und dagegen den Chlorgestank eines Schwimmbads tauschen? Never! Lee stößt bei ihrer hydrobiologischen ­Recherche auch auf das Plöner Max-Planck-Institut für Limnologie – eins meiner ersten Fremdwörter, das aber kaum jemand verstand; es handelt sich um die Wissenschaft von den Binnengewässern. Hier treffen sich unsere Geschichten, denn deshalb bin ich in Plön aufgewachsen. Mein Vater erforschte dort das Süßwasser und entdeckte das Rädertierchen Filinia hofmanni, das sich übrigens am liebsten in Schichten unterhalb von zehn Grad aufhält.

Jessica Lee half ihr Langzeitprojekt gegen Liebeskummer, Depressionen und sogar gegen die Angst vor der schwarzen Tiefe; für sie ist es ein Akt der Selbstbehauptung. Und damit kommen wir zum Sinn des Ganzen. Warum tut man sich die irren Qualen an? Trotz Unterschieden in Praxis und Regelwerk – darin sind sich alle Winterbader einig: Das anhaltende und wohlig warme Glücksgefühl, das sich allerdings erst einstellt, wenn man aus dem Wasser kommt, macht süchtig. Das Adrenalin und die Endorphine, die dein Körper als Frostschutz ausschüttet, täuschen überzeugend darüber hinweg, dass dir eben beinah deine Zehen abgefroren wären.

Die strengen Regeln braucht es also nur, um sich zu überwinden. Obwohl ausgerechnet die sich so streng selbstdisziplinierende Rickman-Poole Kaltbadeanwärtern empfiehlt: »Don’t give yourself rules, plan to do only what makes you happy, then do it and share it!« Done.