Homestory

Homestory #07

Es gibt zu später Stunde Schöneres, als in den Redaktionsräumen an einem Text zu feilen, in dem noch der Wurm steckt, oder im Internet US-Präsident Donald Trumps Rede vor dem US-Kongress von voriger Woche zu gucken. Bei genauerem Hinhören enthielt diese zwar nach wie vor die gewohnten Angebereien, Anmaßungen und Frechheiten. Aber allein die Tatsache, dass man diesmal vergleichsweise genau hinhören musste, war ja an sich schon bemerkenswert. Was der ungewohnt versöhnliche Tonfall der diesjährigen State of the Union-Rede langfristig zu bedeuten haben könnte und wie es dieses Jahr bei der großen Muppet-Show in Washington, D.C., weitergehen wird, sind schließlich Fragen, die auch die Redaktion der Jungle World leidenschaftlich beschäftigen.

Es gibt, wie gesagt, auch wirklich Schöneres, als dann noch im Büro zu sitzen, wenn irgendwann fröhlich winkend der Kollege aus dem Inland in der Tür steht und sagt: »Okay, du bist jetzt der Letzte hier.« Auf einmal ist es gespenstisch still auf der Etage. Aber läuft da wer über den verlassenen Gang? Knallt da nicht irgendwo eine Tür? Woher kommen nur diese merkwürdigen Geräusche? Sicher nicht aus dem Teppichkontor im Erdgeschoss – der hat schon lange geschlossen. Auch im Tonstudio eine Etage tiefer brennt kein Licht mehr. Doch da hallen Schritte und Stimmen – ganz deutlich aus dem noch hell erleuchteten Treppenhaus!

Und tatsächlich, zwei Stockwerke unter den Redaktionsräumen ist überraschend viel los. In der im November neu eingezogenen Kunstgalerie eröffnet Carla Guagliardi aus Brasilien ihre Ausstellung »Conversa com a parede« (zu Deutsch »Gespräch mit der Wand«). Der Galerist Tobias unterhält sich im Eingangsbereich mit paar- und gruppenweise eintreffenden Kunstbegeisterten.

Währenddessen bieten seine beiden Mitarbeiter Wassili und Kevin Wein und die in Berlin bei solchen Gelegenheiten obligatorischen Laugenbrezeln an. Als Abonnent interessiert sich Kevin dafür, in welchem Land die diesjährige Auslandsausgabe der Jungle World produziert werden wird, doch das bleibt wie gewohnt bis einige Wochen vor deren Erscheinen ein wohlgehütetes Betriebsgeheimnis. Guagliardi erklärt dafür der Jungle World die tiefere Bedeutung ihrer ausgestellten Objekte und Galerist Tobias lässt uns wissen, warum man in naher Zukunft in Berlin vermehrt auf Künstlerinnen und Künstler aus Brasilien treffen wird.

Der Galerist beschreibt ein mittlerweile etabliertes Einwanderungsmuster. Ab 2009 verschlug es einen ganzen Jahrgang linker Iranerinnen und Iraner nach Berlin. Mit den Flüchtlingen aus Syrien entstanden auf Berliner Brachflächen Siedlungen aus kleinen weißen Containerwürfeln. Und seit dem Putschversuch in der Türkei trifft man in den Bars und Clubs vermehrt türkische Linke und Journalisten, die alle für die Taz zu arbeiten scheinen. Wann immer man denkt, Berlin sei im Begriff, langweilig zu werden und an sich selbst zu verblöden, besorgt irgendein repressives Regime der Stadt wieder den dringend benötigten brain gain. Wie man sieht, profitiert auch die Jungle World davon.