Die Texte der Theoretikerin der Dekolonisation Silvia Rivera Cusicanqui sind auf Deutsch erschienen

Antiakademischer Akademismus

Die bolivianische Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui kritisiert die Regierung unter Evo Morales für ihre Inkonsequenz in Sachen Dekolonialisierung.

Der Kolonialismus hat Denkweisen geprägt. In seiner historischen Phase wurden nicht nur Länder ausgeraubt und Menschen zu tödlicher Arbeit gezwungen sowie in rassistische Kategorien eingeteilt. Der Kolonialismus beeinflusst noch Jahrzehnte nach seinem offiziellen Ende bei allen Nachfahren derer, die mit ihm in Berührung gekommen sind, die »mentalen Strukturen und die Art, die Welt wahrzunehmen«. Das ist wohl die zentrale Grundannahme jeder dekolonialistischen Theorie. Formuliert hat sie hier die bolivianische Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui. Sie ­arbeitet seit Jahrzehnten eng mit indigenen Menschen in Bolivien zusammen und vertritt eine Form eingebetteter Sozialwissenschaft, die sich vor allem der Methode der Oral History bedient. Nun sind erstmals einige ihrer Texte auf Deutsch erschienen.

Angesichts der Interpretation, die Rivera Cusicanqui für das Zusammenspiel verschiedener kultureller Ein­flüsse anbietet, wird man den Eindruck nicht los, als ginge es ihr doch mehr um die Durchsetzung des eigenen Ansatzes dekolonialistischer Wissensproduktion.

In diesen kritisiert Rivera Cusicanqui die bolivianische Regierung unter Evo Morales für ihre Inkonsequenz in Sachen Dekolonialisierung. Sie erörtert historische Widerstandsstrategien – »neue Sprachen und indigene Projekte der Moderne« – und lässt vor allem kein gutes Haar an ihren ähnlich gesinnten Kolleginnen und Kollegen: Zum Kreis jener Sozial-, Politik- und Literaturwissenschaftler, die sich seit einigen Jahren unter dem akademischen Label »dekoloni­alistische Theorie« versammeln, mag Rivera Cusicanqui nämlich partout nicht gezählt werden. Sie distanziert sich deshalb etwa von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, dem kolumbianisch-US-amerikanischen Anthropologen Arturo Escobar, seinem venezolanischen Kollegen ­Edgardo Lander, der in Quito/Ecuador lehrenden Catherine E. Walsh und dem argentinischen Literaturwissenschaftler Walter D. Mignolo. Auf letzteren hat es Rivera Cusicanqui besonders abgesehen. Mignolo, der an der Duke University in den USA lehrt, verkörpert aus ihrer Sicht die Akademisierung der Dekolonisierung. Indem er decolonial studies betreibe, habe er die tatsächlichen Dekolonisierungspraktiken der sozialen Bewegungen in die begrenzten und illusionären Diskussionen »der akade­mischen Welt« überführt. Sie sagt ­Mignolo gar nach, ein »kleines ­Imperium« im Namen der dekolonialistischen Theorie errichtet zu ­haben.

Nun kann sicherlich nicht genug betont werden, dass soziale Bewegungen nicht nur Träger politischen Wandels sind, sondern auch Wissen produzieren, ein Wissen, das vor allem im westlichen Universitätsbetrieb nicht gerade wertgeschätzt und anerkannt wird. Daraus aber zu schließen, dass jeder akademische Diskurs sogleich auf der Seite des Kolonialismus und seiner Effekte stehe, scheint – zumal für eine Soziologieprofessorin – doch etwas voreilig. Die Uni­versität müsste stattdessen auch als eine Arena verstanden werden, in der die unterschiedlichen Denkweisen der Menschen miteinander ringen, und das, obwohl und gerade weil sie eine »westliche« Institution mit ­einer Geschichte der Monopolisierung von Wissen ist.

Und was Mignolo selbst betrifft: Zumindest seine Texte lassen in der Haltung kaum Unterschiede zu jener Rivera Cusicanquis erkennen. Im kürzlich erschienenen, gemeinsam mit Catherine E. Walsh verfassten Grundlagenwerk »On Decoloniality« (2018) heißt es in antiakademischem Duktus, der demjenigen seiner Kritikerin durchaus ebenbürtig ist: »Decolonial studies können nicht dekolonialistisch sein.« Auch Catherine E. Walsh gibt sich sehr bewegungsnah, indem sie sich durchgehend positiv auf die sozialen Kämpfe von indigenen, schwarzen und bäuerlichen Gruppen in Lateinamerika bezieht und ihr dekolonialistisches Anliegen nicht nur als Analyse, sondern als »Sein, Werden, Spüren, Fühlen, Denken und Tun« beschreibt.
Es ist also schlicht nicht zu entscheiden, ob Rivera Cusicanquis Kritik zutreffend ist oder nicht. Es irritiert eher die Gemeinsamkeit in Sachen explizitem Antiakademismus – gerade weil sie von betuchten Universitätsangestellten formuliert wird. Dass diese Haltung eine explizite, fast schon zur Schau getragene ist, sei besonders betont. Denn implizit ist Rivera Cusicanquis Buch sehr ­akademisch, ebenso wie die Bücher von Mignolo und Walsh: Die Abgrenzung von den Kolleginnen und Kollegen, der beleidigte Unterton ­angesichts ausgebliebener Anerkennung und das Installieren von ­Begriffen mittels Abwertung anderer Begriffe, all das könnte akademischer kaum sein.

Für die Begriffskämpfe ein Beispiel: Weil es nicht nur Kolonisatoren und Kolonisierte, nicht nur Schwarz und Weiß gibt, ist jede dekolonialistische Theorie angehalten, sich zu über­legen, wie sie Graustufen beschreibt – seien sie nun ethnisch oder bezogen auf alltägliche Praktiken. Rivera Cusicanquis Vorschlag lautet, den Begriff ch’ixi für das Zusammenspiel unterschiedlicher kultureller Einflüsse zu verwenden. Sie greift ihn aus dem Aymara auf, wo ch’ixi eine Überlappung beschreibt. Beim Überlappen lösen sich die verschiedenen Elemente nicht ineinander auf und verschmelzen auch nicht zu etwas Neuem. Gängige akademische Praxis ist es nun, die eigenen Begriffe in Abgrenzung zu anderen, bereits bestehenden zu entwickeln. Rivera ­Cusicanqui grenzt ihren Begriff ch’ixi vom Konzept der Hybridität des ­argentinisch-mexikanischen Kulturwissenschaftlers Néstor García ­Canclini ab. Dieses Konzept, behauptet Rivera Cusicanqui, stehe für die Möglichkeit, »dass aus der Mischung von zwei verschiedenen Dingen ein drittes, komplett neues entstehen kann«. Dieses Dritte vereine die beiden, aus denen es entsteht, in einer harmonischen Fusion. Dem setzt ­Rivera Cusicanqui ihr Mischungskonzept des ch’ixi entgegen, in dem ­keine künstliche Harmonie herrsche. Stattdessen würden die vermischten kulturellen Praktiken im Konzept ch’ixi zueinander »im Widerspruch stehen oder sich komplementieren«.

Wirft man allerdings einen Blick in García Canclinis Schriften, fällt gleich auf, dass dessen Hybriditätsverständnis keineswegs so harmonisch ist, wie Rivera Cusicanqui es darstellt. Statt um Harmonie und Konsens geht es García Canclini gerade um Konflikt und Macht. Hybridisierung sei der Begriff, schreibt er, der uns verständlich mache, wie verschiedene Machtverhältnisse – Bourgeoisie gegen Proletariat, Männer gegen Frauen, Weiße gegen Indigene – ineinander verwoben sind und gerade dadurch »eine Effektivität ­erreichen, die sie allein nie zustande bringen würden«.

Angesichts der Interpretation, die Rivera Cusicanqui anbietet, wird man den Eindruck nicht los, als ginge es ihr doch mehr um die Durch­setzung des eigenen Ansatzes als um wirklichen Dialog im Sinne ­­einer ­dekolonialistischen Wissensproduktion.
Interessanter sind die Texte Rivera Cusicanquis sicherlich, wo sie Forschungsergebnisse der Autorin präsentieren. Aber auch da überzeugen sie nicht. Unter dem großangelegten Titel »Soziologie des Bildes« präsentiert Rivera Cusicanqui etwa Interpretationen von Zeichnungen des ­indigenen Intellektuellen Waman Puya de Ayala aus dem frühen 17. Jahrhundert. In dessen bebilderten Chroniken aus den neuen Kolonien sieht Rivera Cusicanqui hinter der Abbildung vorgeblicher Alltagsszenen eine tiefgreifende Kritik am »Verlust der Würde« der kolonisierten Bevölkerung. Die einzelnen Auslegungen scheinen zwar alle plausibel. Bilder, das ist wohl eine Binsenweisheit, ­sagen manchmal mehr oder zumindest anderes als Worte. Weniger nachvollziehbar ist allerdings die Bedeutung, die Rivera Cusicanqui den Bildanalysen insgesamt zuschreibt.

Denn sie sind alle der Prämisse untergeordnet, die sie gleich zu Beginn aufstellt: »Worten kommt im Kolonialismus eine spezielle Rolle zu«, schreibt sie da, »sie benennen nicht, sondern sie verschleiern.« So allgemein formuliert ist das einfach nur Unsinn. Was sollte man sonst mit den rund 1 000 geschriebenen Seiten des Protoethnologen ­­Waman Puma de Ayala anfangen? Und was ist mit der ganzen deko­lonialistischen Theorie?
Vielleicht muss man doch warten, bis Rivera Cusicanquis Hauptwerk »Oprimidos pero no vencidos« ­(Unterdrückt, aber nicht besiegt) aus den frühen achtziger Jahren ins Deutsche übersetzt wird, um den wirklichen Stellenwert dieser dekolonialistischen Theoretikern ein- und auch wertschätzen zu können.

 

Silvia Rivera Cusicanqui: Ch’ixinakax utxiwa. Eine Reflexion über Praktiken und ­Diskurse der Dekolonisierung. Aus dem Spanischen von Silke Steiml und Emin Günaydin. Unrast-Verlag, München 2018, 147 Seiten, 12,80 Euro