Die Beziehungswelt von Protonen, Neutronen und anderen sehr kleinen Teilchen

Protonen haben Bindungsängste

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Captain Proton interessiert sich nicht für die oben erwähnten 2,2 Megaelekt­ronenvolt. Er will wissen, was für ihn abfällt. Und das ist nicht die gesamte ­Bindungsenergie, sondern die Bindungsenergie pro Kernteilchen: 2,2 Megaelektronenvolt geteilt durch zwei, ein Neutron und ein Proton, das ist für ihn eine gute Eins. Und das ist einerseits besser als nichts und andererseits ganz schön wenig. Er und zwei Neutronen, Tritium, das wäre schon eine knappe Drei – aber kein Vergleich zu Helium-4 mit zwei Protonen und zwei Neutronen und einer Gesamtbindungsenergie von 28,3 Megaelektronenvolt. Das ist geteilt durch vier nämlich schon eine echte Sieben.

Helium-4 ist ein Ausreißer unter den kleinen Atomkernen, sowohl in etwas kleineren als auch in etwas größeren Kernen sind Protonen und Neu­tronen nicht so stark gebunden wie dort. Aber Captain Proton will mehr. Er würde gerne mal erleben, wie sich Kohlenstoff-12 oder Sauerstoff-16 anfühlen. Und wo er eigentlich hin will, das ist Eisen-56 mit 26 Pro­tonen und 30 Neu­tronen. Das ist für ihn eine knappe Neun und einer der am stärksten gebundenen Atomkerne überhaupt. Besser wird es nicht, denn bei noch größeren Atomkernen nimmt die Bindungsenergie pro Kernteilchen in der Tendenz wieder ab. Uran-235 etwa ist nur noch eine miese Acht, so ähnlich wie Kohlenstoff-12. Das hat zur Folge, dass die Spaltung sehr großer Atomkerne Energie freisetzt – weil die beiden Spaltprodukte stärker gebunden sind als das Ausgangsma­terial. Umgekehrt entsteht bei der Verschmelzung kleiner Atomkerne Energie, wieder weil das Produkt der Reaktion stärker gebunden ist als die Ausgangsmaterialien.
Abgesehen von der Frage, wo die Energie herkommt, unterscheiden sich Kernspaltung und Kernfusion doch sehr. Kernspaltung ist nämlich vergleichsweise einfach. Da reicht es schon, Uran-235 mit einem passenden Neu­tron zu beschießen, dann spaltet sich der Kern und setzt zusätzliche Neu­tronen frei, die wiederum andere Urankerne spalten können. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, eine Spaltung herbeizuführen, sondern zu viele Spaltungen – eine Kettenreaktion – zu verhindern. Und wenn das auch nur für einen kurzen Moment nicht funktioniert, hat man ein Problem wie in Tschernobyl.

Kernfusion hingegen ist schwierig – und das Problem sind wieder Captain Proton und seinesgleichen. Denn die sorgen mit ihrer positiven Ladung dafür, dass sich Atomkerne gegenseitig abstoßen. Um miteinander zu verschmelzen, müssen sie aber, wie gesagt, bis auf wenige Femtometer aneinander herankommen. Und das funktioniert nur auf eine Weise: indem sie sich so rasant aufeinander zubewegen, dass sie trotz der Abstoßung nicht mehr ausweichen können. Dafür muss es sehr heiß sein, denn je höher die Temperatur, desto schneller die Teilchen. Und eng muss es sein, ein echtes Gedränge. Alle Geschwindigkeit hilft nichts, wenn überhaupt nicht genug andere Kerne in der Nähe sind. Im Inneren der Sonne ist beides gegeben: jede Menge Atomkerne auf engstem Raum bei etwa 15 Millionen Grad. Die Folge ist eine ganze Reihe von Fusionsre­aktionen und radioaktiven Zerfallsprozessen.

Eine solche Umgebung lässt sich auf der Erde nicht nachbauen. Aber für eine ganz spezielle Fusionsreaktion könnte es mit viel Geschick doch ­reichen, und die verwandelt Deuterium und Tritium in Helium-4 und ein frei­es Neutron. Das ist einerseits vergleichsweise einfach, weil sowohl Deuterium als auch Tritium jeweils nur ein Proton enthalten, und andererseits ergiebig, weil der entstehende Helium-4-Kern so stark gebunden ist. Hinzu kommt, dass das freie Neutron einen großen Teil der freigewordenen Bindungsenergie mit sich führt. Und damit lässt sich vielleicht ein Kraftwerk bauen. Captain Proton jedenfalls würde das gefallen – auch wenn er sich erstmal ein Neutron angeln muss, um an der Reaktion teilzunehmen. Aber man weiß
ja nie.