Wie sich das Gedenken an die Maidan-Proteste geändert hat

Was von der Revolte übrig blieb

Seite 2 – Immer wieder Gott  

Auch die am Maidan-Denkmal offerierte Geschichtsversion benennt die Gewalt als prägendste Erfahrung dieser Monate. Aus den damaligen Facebook-Texten spricht glühender Patriotismus.

»Drei Dinge sind mir heute passiert: 1. Ich glaube an Gott. 2. Ich wurde Nationalist. Und 3. Ich war frei von Angst. Gott ist mit uns, die Ehre und die Kraft sind mit uns, das Volk ist mit uns!« schrieb ­Fedor Siytsov. Viele Texte schildern, wie in den Kämpfen eine neue, patriotische Gemeinschaft entstanden sei. »Ein Verteidigungskämpfer bedeckte meinen Körper mit seinem eigenen. So brüderlich, so sanft, so dass, Gott behüte, keine Kugel mich treffen würde«, heißt es etwa in einem der ausgestellten Posts.

»Die Atmosphäre auf dem Maidan war schrecklich«, schrieb Natalka ­Didenko am 22. Februar 2014. »Ich habe nie zuvor geradezu körperlich erlebt, wie Wut, Schmerz und Machtlosigkeit tausendfach wuchsen, darüber, nicht unmittelbar die Verursacher unseres Schmerzes bestrafen zu können.« Kurz nach dem Massaker floh Januko­wytsch außer Landes.

Der US-amerikanische Historiker William Risch, der viele Jahre in der ­Ukraine lebte, erinnert sich, wie er damals in Kiew das Gespräch mit Sicherheitskräften suchte: »Das waren auch sehr normale Leute. Sie beklagten sich, dass die Polizei nicht genug respektiert werde. Einer war wütend. ›Die behaupten, ich verteidige einen Kriminellen‹, hat er uns gesagt. ›Aber ich verteidige die Verfassung.‹«

»Viele Menschen sprechen vom Maidan als dieser wundervollen transformativen Erfahrung. Aber die Wahrheit ist, dass viele Menschen auch sehr verroht sind«, sagt Risch. »Am Ende wollten viele Janukowytsch einfach nur tot sehen, und zugegebenermaßen war ich einer davon.« Heute sei er desillusioniert. »Im Rückblick fragt man sich: Wofür das alles? Das Regime ist implodiert. Und dann war irgendwie alles vorbei. Diese ganzen Ideen von der Macht des Volkes sind nie Wirklichkeit geworden.«

Die Verrohung betraf offenbar beide Seiten. »Ich habe später einen Berkut-Kämpfer getroffen, der Patenonkel des Kindes meines Cousins«, erzählt Ilya. »Er war vom Maidan traumatisiert, ein Alkoholiker. Er sagte mir, dass er jeden, der auf dem Maidan war, umbringen wolle. Das Regime hat diese Leute mit Propaganda verrückt gemacht. Er wolle uns verbrennen, uns die Haut ­abziehen für das, was wir getan hatten. Weil wir als ›Nazi-Abschaum‹ die jungen Polizisten, die doch bloß Befehle befolgten, mit Molotow-Cocktails verbrannt hätten.«

 

Für Markt und Selbstverantwortung

Die Frage, wofür sie demonstriert ­haben, stellen sich fünf Jahre nach dem Maidan viele. »Für die Journalisten aus dem Westen haben wir es ›Euromaidan‹ genannt, aber schon ab Anfang Dezember hat Europa auf dem Platz keine große Rolle mehr gespielt«, sagt Mychailo Wynnyckyj. »In den dunkelsten Momenten haben wir erkannt, dass wir ganz auf uns allein gestellt waren. Deshalb haben wir so oft die Nationalhymne gesungen. Wir haben eine Einigkeit gewonnen, wie das die Leute im Westen einfach nicht mehr verstehen.«

Wynnyckyj ist kein Nationalist oder Revoluzzer, sondern ein freundlicher, mittelalter Professor für Soziologie und Wirtschaft an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, der ­renommiertesten Hochschule der Ukraine. Er sitzt in einem Café im angesagten Kiewer Stadtteil Podil, wo sich zwischen Bars, Galerien und den ­besten Technoclubs der Stadt das junge Kiew zu Hause fühlt. Um die Ecke demons­triert gerade eine kleine Gruppe Linker für die Freilassung des anarchistischen Maidan-Militanten Olexandr Koltschenko, der mit dem Filmemacher Oleh Senzow in russischer Gefangenschaft sitzt.

Wynnyckyj ist spürbar geübt darin, den Maidan gegen westliche Skeptiker zu verteidigen – auch gegen den »russischen Propagandamüll«, wie er sich ausdrückt. Auf jede kritische Nachfrage hat er eine Antwort parat. Der Sprachenkonflikt etwa sei künstlich von Russland aufgebauscht. In seinen Seminaren werde, wie im Kiewer Alltag, nach wie vor ganz normal Russisch und Ukrainisch gesprochen. Zur Präsenz radikaler Nationalisten meint er: »Ich bin eher überrascht, dass wir so wenige radikale Nationalisten haben. Die Ukraine hat 7,7 Prozent ihres Territoriums verloren. Die patriotische Verteidigung ist die Reaktion darauf. Ich entschuldige diese Gruppen nicht, aber es ist eine natürliche Reaktion, wenn ein Land angegriffen wird.«

Und er fügt hinzu: »Der Patriotismus war ein Grund, weshalb vor allem die europäische Linke den Maidan nie verstanden hat. Der andere ist, dass es zwar eine Revolution war, aber eine bürgerliche Revolution. Kleinunternehmer, die Mittelschicht und Angestellte haben für Monate ihre Arbeit verlassen, um zu demonstrieren und zu kämpfen – erstaunlich.« Die Revolution sei wirtschaftsliberal gewesen, ist sich Wynnyckyj sicher: »Freiheit und Selbstverantwortung waren die Werte des Maidan.«

So müsse man auch die Veränderungen in der Ukraine heute verstehen. Die »neue Ökonomie«, der wachsende Sektor privater Unternehmen, versuche, das Joch der »alten Ökonomie« abzuwerfen, das seien die Oligarchen, deren Unternehmen noch aus der sowjetischen Wirtschaftsstruktur stammen. Anstatt ihre Unternehmen wie normale Kapitalisten zu führen, hätten die Oligarchen sie jahrelang nur ausgeplündert und ihre Kontrolle über den Staat und den Zugang zu billigem russischem Gas ausgenutzt, um die Marktkonkurrenz auszuhebeln. So hätten sie die ukrainische Wirtschaft in den Ruin getrieben. Nun gehe es langsam wieder aufwärts. »Den Oligarchen geht es heute schlechter, als viele denken«, sagt Wynnyckyj. »Stattdessen gibt es immer mehr mittlere Firmen, mit zehn bis 100 Millionen US-Dollar Umsatz im Jahr. Eine echte Marktwirtschaft eben.«

Tatsächlich kann man heute im Zentrum Kiews zumindest in einigen Straßenzügen den Eindruck bekommen, man sei in einer westeuropäischen Stadt. Überall wird gebaut, es gibt schicke Restaurants und Luxusgeschäfte. Vor allem auf dem Land verelenden viele Menschen allerdings weiter.

 

Kriegsmüde und perspektivlos

Während Wynnyckyj noch von den positiven Veränderungen der vergangenen Jahre schwärmt, tritt wenige Kilometer entfernt das Parlament zu einer Notfallsitzung zusammen. Nach den Kampfhandlungen im Asowschen Meer hatte in der Nacht zuvor der Präsident live im Fernsehen verkündet, das Kriegsrecht verhängen zu wollen. Russland habe an der Grenze seine Truppen deutlich verstärkt, warnte der Präsident. Belege dafür gibt es nicht, allerdings will Russland seine Militärpräsenz auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim verstärken (siehe Seite 13).
Die Parlamentssitzung verlief tumult­artig, denn viele Abgeordnete befürchteten, Poroschenko ziele darauf ab die Wahlen im März zu sabotieren. Gilt das Kriegsrecht, können die Grundrechte der Bürger eingeschränkt, alle ­öffentlichen Versammlungen verboten und die Kontrolle über die Medien ­verstärkt werden. Wahlen dürfen nicht stattfinden. Schließlich erzwang das Parlament, das Kriegsrecht regional und auf 30 Tage zu begrenzen. Damit ist immer noch ein großer Teil des Landes betroffen, vor allem der Osten und ­Süden, wo die Bevölkerung mehrheitlich Russisch spricht und bei den ­Wahlen eher nicht für den Präsidenten stimmen würde.

Trotz dieses Rückschlags für Poroschenko war es ein geschicktes politisches Manöver. »Mit einem Schlag ­veränderten der Präsident und sein Team die Berichterstattung im ­gesamten Land«, schrieb die einfluss­reiche Onlinezeitung Ukrajinska ­Prawda am nächsten Tag. »Sie machten Poroschenko zur zentralen Figur. Er ist der Verteidiger, Kommandant, Stratege.«

Ilya will mit all dem nichts mehr zu tun haben. Wie viele junge Ukrainer versucht er, der Wehrpflicht zu entgehen. Solange in der Armee Rekruten ­geschlagen und misshandelt werden, werde er nicht dienen. Auch mit der ­Politik habe er abgeschlossen. »Viele junge Menschen waren damals idea­listisch. Als wir die neue Regierung sahen und kapierten, dass das System fast immer noch so funktioniert wie zuvor, hat uns das enttäuscht«, sagt er.

Mit einem Lachen erklärt er, wie er sich die Zukunft vorstelle: »Ich denke vor allem daran, wie ich mich bilden kann, Verbindungen knüpfen kann – und dann nichts wie raus aus diesem verdammten Land.«