Platte Buch -»Was wir einander nicht erzählten«, ein Roman von Gudrun Seidenauer

Lost and Found

Jahrzehnte nachdem Marie mit einem für Mella zunächst unbegreiflichen Brief die Freundschaft beendet hat, treffen die einst unzertrennlichen Freundinnen in beruflichem Zusammenhang unerwartet aufeinander. Die Begegnung findet in Japan statt, wo sich beide fremd und verloren fühlen. Tausende Kilometer entfernt von ihrem Alltag, weit weg von der heimatlichen Kleinstadt irgendwo in Österreich, weit weg auch von Wien, wo die Freundschaft 1989 in einer durchpolitisierten WG ihr Ende nahm, versuchen sie, zu klären, was damals passiert ist. Aber kann reden wirklich helfen? Als sie einander kennenlernten, waren sie Schulmädchen, wurden in der Klasse neben­einander gesetzt und mochten einander fast auf Anhieb.

Mella, die mit ihrem Vater Alex, der als Musiker arbeitete, aufwuchs, ­beneidete Marie um die familiäre Geborgenheit und die Mutter, die Kuchen buk und Butterbrote schmierte. Marie dagegen beneidetete Mella um das unkonventielle Leben. Im Laufe des Erwachsenwerdens gerät die Freundschaft der beiden, mit Wünschen überfrachtet, in eine gefährliche Schieflage: Dass Marie bei der Trauerfeier für Mellas Mutter nicht mit Alex und Mella in der ersten Reihe sitzen durfte, schmerzt noch nach Jahrzehnten. Dass Mella überhaupt bemerkt hatte, dass Marie eine kurze Affaire mit Alex hatte (die über ­einen Kuss nicht hinauskam), hätte Marie nicht gedacht. Dass Mellas Liebschaft mit Maries Freund Werner die Rache sein sollte, kommt erst jetzt ans Licht. Aber muss so viel ­Offenheit nach so langer Zeit alles nicht noch schlimmer machen?

Gudrun Seidenauer arbeitet als Dozentin für Kreatives Schreiben sowie für Deutsch und Italienisch. Mit »Was wir einander nicht erzählten« ist ihr ein wunderbarer Erstlings­roman gelungen. Sie schafft es, die Empfindsamkeit der jungen und der dann älter gewordenen Frauen anschaulich zu machen. Ein Roman über die Freundschaft.

 

Gudrun Seidenauer: Was wir einander nicht erzählten. ­Milena-Verlag, Wien 2018, 264 Seiten, 24 Euro