Viele Menschen aus Albanien emigrieren angesichts der Armut im Land

Das Glück in der Ferne

In Albanien ist die Armut groß und die Arbeitslosenquote hoch, viele Menschen wandern daher aus. Viele setzen ihre Hoffnungen auch in einen EU-Beitritt des Landes, bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Die Emigration ist Teil der Lösung und des Problems zugleich.
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Man sieht ihn überall: Den schwarzen, doppelköpfigen Adler auf rotem Grund, die Nationalflagge Albaniens, der nicht nur eine Vielzahl von ­Gebäuden und Straßen ziert, sondern sich auch auf der Kleidung und als Tattoo vieler Albanerinnen und Albaner findet. Selbst beim Posen vor der Kamera kreuzen Jugendliche ihre Hände, um das Symbol des Vogels mit zwei Häuptern zu bilden. Der omnipräsente Doppeladler wird allerdings ­häufig begleitet von der europäischen sowie der deutschen Flagge. Ob auf Smartphonehüllen, neben Autokennzeichen oder als Hintergrundfarben für Supermarktlettern: Die demonstrative Zurschaustellung der Flaggen­kombination deutet auf die Hoffnung und starke Sehnsucht nach EU-Anbindung hin.

Albanien, das im Süden eine Grenze zum EU-Mitgliedsland Griechenland besitzt, ist geographisch zwar nah an der Europäischen Union, von einer Mitgliedschaft aber noch relativ weit entfernt. Das Land am Mittelmeer ist seit 2014 offizieller EU-Beitrittskandidat und Nato-Mitglied. Dem vor neun ­Jahren gestellten Antrag auf EU-Mitgliedschaft folgten teils mäßig und teils sehr erfolgreiche Entwicklungen, um die Kopenhagener Kriterien schließlich irgendwann zu erfüllen. Mitte September einigten sich Albanien und die EU auf den Beginn von Beitrittsgesprächen ab Juni 2019. Der Albanien-Report 2018 der EU-Kommission bescheinigt dem Land Fortschritte im Kampf gegen Korruption, vor allem aber in der Reformierung des Rechtssystems. Überprüft wurden unter ­anderem die Einkommensquellen von etwa 800 Beamten.

»Natürlich möchte ich dieses Land verlassen, doch ich will keine Angst dabei haben.« Valentina Hajdini*, Geographiestudentin

Trotz zahlreicher Bemühungen bleibt die Bekämpfung der Korruption eine große Herausforderung in Albanien. Sie ist allgegenwärtig und beschränkt sich nicht nur auf die Justiz, die öffentliche Verwaltung und die Politik, ­sondern wird auch Hoteleigentümern nachgesagt, die sich ein profitables Geschäft aufbauen. Persönliche Beziehungen zählen oft mehr als die ­eigenen ­Leistungen. Die Jugendarbeitslosigkeitsquote betrug 2017 33,6 Prozent, die ­Arbeitslosigkeitsquote insgesamt 15 Prozent.

Geld aus dem Ausland.

Das beschäftigt auch Valentina Hajdini* aus Tirana: »Ich würde gerne Lehrerin werden, aber es ist sehr schwierig, hier eine Stelle zu bekommen.« Die 22jäh­rige Geographiestudentin ist pessimistisch, was ihre Zukunft in Albanien ­anbelangt. Sollte sie keine Beschäftigungsmöglichkeit mit Bezug zu ihrem Studium finden, will sie ins Ausland gehen. Sie würde ihrem Bruder nacheifern, der in London lebt. »Natürlich möchte ich dieses Land verlassen, doch ich will keine Angst dabei haben«, sagt sie. Damit bezieht sie sich auf den illegalen Status, den viele Albanerinnen und Albaner in Kauf nehmen, um im Ausland zu leben. Auch ihr Bruder ging ohne offizielle Papiere mit zwei Cousins nach Großbritannien, nachdem er einen Bachelor-Studiengang in Psychologie in Tirana absolviert hatte. Trotz dieser Qualifikation lebe er von Gelegenheitsjobs, getrennt von der ­Familie und mit der ständigen Angst, erwischt zu werden, sagt seine Schwester.

Hajdini ist auf das Geld angewiesen, das ihr Bruder ihr regelmäßig schickt, weil sie damit ihr komplettes Studium finanziert. Die Zuhausegebliebenen zu unterstützen, ist eine Selbstverständlichkeit. In einem Land, in dem die Familie das wichtigste soziale Gefüge darstellt, tragen solche Überweisungen substantiell zur Wirtschaftsleistung bei. Bis zum Jahr 2007 überstiegen sie dem Statistikportal Open Data Albania zufolge sogar ausländische Direktinvestitionen und die Profite aus dem Export­geschäft. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt gehört Albanien zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Überweisungen aus dem Ausland, weshalb die Auswanderung selten allein als individuelle Entscheidung für die Selbstverwirklichung betrachtet werden kann. Die Sprachkurse sind überfüllt. Ins­gesamt sind, je nach Statistik, 50 bis 70 Prozent der Jugendlichen ausreisewillig.

Der albanische Traum

Adnan* steht mit Freunden in einer rudimentär ausgestatteten Waschanlage in der Peripherie Tiranas, wo er gerade das Auto seines Freundes auf Hochglanz bringt. Er hat nie eine Universität ­besucht. Im Alter von 17 Jahren ging er mit einem gefälschten, für 7 000 Euro erstandenen Pass nach Großbritannien. Aus familiären Gründen sei er gerade wieder in der Stadt, lebe sonst aber in Birmingham, wo er eine Sanierungsfirma betreibe, erzählt er. Auf die ­Frage, wovon er am Anfang gelebt habe, folgt nur eine vage Antwort: »Ich habe alles Mögliche gemacht.« Ein leichtes Lächeln auf den Lippen kann er sich dabei nicht verkneifen. Mit einem starken britischen Akzent erzählt er auf Englisch von seinem Faible für schnelle Autos, was auch seinem Instagram-­Account zu entnehmen ist. Er verkörpert die perfekte Erfolgsstory eines jungen Albaners, der im Ausland aus dem Nichts ein selbständiges Leben in Wohlstand aufgebaut hat – der albanische Traum. Adnan, der sich selbst als Geschäftsmann bezeichnet, hat die Beziehungen zu seinem Herkunftsland nie abgebrochen und eine Shisha-Bar in Tirana eröffnet, die jedoch nach sieben Monaten wieder geschlossen wurde. Die Sanierung der Straße vor seinem Haus habe er selbst in die Hand genommen, weil es in seinen Augen sinnlos ist, zu erwarten, dass der Staat diese Aufgaben erfülle. »Warum sollte ich Reinigungssteuern für die Straßen bezahlen, wenn doch eh keiner putzt«, beklagt sich der Selfmademan über die staatliche Ineffizienz und spricht damit die Ansicht vieler Albaner aus.

Adnan gehört zu jenen Migranten, die trotz der wirtschaftlichen Misere und der bürokratischen Hürden in Albanien Unternehmen aufbauen, mit dem Geld, das sie im Ausland verdient haben. Daniel Göler, Professor für Geographische Migrations- und Transformations­forschung an der Universität Bamberg, hat in einer regionalen Stichprobe in Süd- und Mittelalbanien herausgefunden, dass 33 von 34 neu gegründeten Betrieben von ehemaligen Migranten ins ­Leben gerufen wurden. Die Erfahrung der Emigration scheine den Unternehmergeist zu stärken und die Menschen dazu zu ermutigen, ihr oftmals lückenhaftes Wissen dennoch in wirtschaftliche Vorhaben umzusetzen. Als Beispiel nennt Göler einen albanischen Mörtelhersteller aus Vlora, der sich sein unternehmerisches Know-How als Fahrer in einer norditalienischen ­Firma gleichen Typs angeeignet habe. Allerdings scheitern solche Unterfangen Göler zufolge häufig an den ungünstigen Investitionsbedingungen und Risiken sowie an der Spontanität und dem Dilettantismus der Investoren.

Asyl abgelehnt

Den Gesichtern der anderen in der Waschanlage anwesenden Männer ist zu entnehmen, dass sich Adnan trotz seiner Fehlinvestition ihrer Bewunderung gewiss sein darf, wenn er von seinen Erfahrungen berichtet. Er ist nicht der Einzige mit Migrationserfahrung in der Runde, wohl aber der Erfolgreichste. Der Besitzer der Waschanlage spricht ein paar Brocken Deutsch, möchte aber nicht reden. Er hatte, wie viele Albanerinnen und Albaner, im Jahr 2015 Asyl in Deutschland beantragt.
Der Asylgeschäftsstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zufolge kam im Jahr 2015 die zweitgrößte Gruppe von Asylsuchenden in Deutschland aus Albanien, nach ­denen aus Syrien. Obwohl die Anerkennungsquote für albanische Asyl­suchende 2015 nur bei 2,6 Prozent lag und die Erfolgschancen durch die Einstufung der Westbalkanländer als ­sichere Herkunftsstaaten noch verringert wurden, bleibt Deutschland eines der beliebtesten Zielländer. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel während ­ihres Besuchs in Tirana 2015 den Fachkräftemangel ansprach, wurde dies in Albanien mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Die Bitte Merkels an die anwesenden Zuhörer, die ­Jugend über die Aussichtslosigkeit eines Asylantrags zu informieren, ging in der öffentlichen Wahrnehmung dagegen unter.

Wunschvorstellungen von sich eröffnenden Beschäftigungsmöglichkeiten haben offenbar sogar in den Asyleinrichtungen in Deutschland Bestand. »Es kursierte das Gerücht, dass man eine Ausbildung machen könne, wenn man nur ein bisschen Deutsch spreche«, sagt Era Rexha*. Sie kommt aus dem Kosovo, arbeitet in einer der ­zentralen Unterkunftseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen und wird hinzugezogen, wenn die Antragsteller ­ihren Asylbescheid bekommen. »Ich kann mich nur an drei Schwestern ­erinnern, deren Asylgesuch erfolgreich war. Das lag daran, dass sie eine seltene Erbkrankheit hatten, für die es in ­Albanien keine Behandlung gibt.« Die Verzweiflung sei groß. Rexha berichtet von Albanern, die regelmäßig lieber den Winter in einer deutschen Asylunterkunft verbringen würden als in ­Albanien.
Ausbruch aus der Isolation

Im Land selbst trifft man auf viele, die bereits im Ausland waren oder zumindest Freunde und Verwandte haben, die im Ausland leben oder lebten. Zahlen der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung zufolge befand sich bis 2010 die Hälfte der albanischen Staatsbürgerinnen und -bürger im Ausland. Lange Zeit wanderten Albaner hauptsächlich in die beiden Nach­barländer Italien und Griechenland aus, die Migrationsbewegungen waren meist auf Krisensituationen zurückzuführen. Der erste große Exodus ging mit dem Niedergang des totalitären Sozialismus einher: Unter dem iso­lationistischen Regime des Diktators Enver Hoxha war eine Ausreise kaum möglich gewesen, nach dem Zusammenbruch des Regimes 1990 zeigte sich der Wunsch nach einem besseren ­Leben deutlich. Bilder gingen um die Welt, die zeigten, wie sich Hunderte ­Albanerinnen und Albaner auf einem Schiff drängten, um bei der Überfahrt von Durrës nach Italien dabei zu sein. Die Mauern der deutschen Botschaft wurden mit einem LKW durchbrochen, das Gelände der Auslandsvertretung war komplett besetzt. Die Menschen wollten einem Land entfliehen, das jahrzehntelang international isoliert gewesen war und unter extremer ­Armut litt.

Migration sei ein »Ventil für eine ­krisengebeutelte Gesellschaft«, sagt Göler. Während die ältere Generation ganz oder teilweise zurückkehre, wollten sich die jungen Leute ein Leben im Zielland aufbauen.
Patris Poshnjari von der Universität Tirana sieht in der Emigration ein Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung, nicht nur wegen des brain drain, also der Abwanderung Hochqualifizierter, sondern auch wegen der Überalterung der Bevölkerung, wenn die Jungen ­gehen. Wenn die Zahl der Arbeitskräfte sukzessive schwinde, könne eine Wirtschaft schlecht wachsen. Dabei besitze Albanien durchaus Potential: Der ­Armut und Misswirtschaft stünden Ressourcenreichtum, eine junge und flexible Bevölkerung sowie eine günstige geographische Lage gegenüber. Die Wirtschaftswissenschaftlerin betont insbesondere die Möglichkeiten, die erneuerbare Energien und andere Wachstumsmärkte wie Öl, Gas, Telekommunikation, Agrarwirtschaft und Tourismus bieten. Allerdings bestehe ein ­hoher Investitionsbedarf und es ­seien nachhaltige Strategien nötig.

Probleme wie die Korruption, die schlecht funktionierende Verwaltung und ungeklärte Eigentumsfragen ­lassen erahnen, dass das Land noch einen weiten Weg vor sich hat: Mit ­einem Beitritt zur Europäischen Union kann nicht vor 2025 gerechnet werden, da dieser Zeitraum bereits den Beitrittskandidaten Serbien und Montenegro in Aussicht gestellt wurde.

Eines steht für Adnan fest: »Europa gibt den Menschen Möglichkeiten, hier aber zählen nur Kontakte.« Er, der in den wohlhabenden Gesellschaften der EU als »Wirtschaftsflüchtling« gilt, spricht trotz aller Strapazen, die eine illegale Immigration mit sich bringt, nur von guten Erfahrungen in Großbritannien. Über Albanien verliert er hingegen kaum ein gutes Wort. Dennoch bleibt seine Verbundenheit mit dem Land bestehen, wie bei vielen Albanern: Familien bleiben ständig in ­Kontakt, der Urlaub findet jedes Jahr im Herkunftsort statt, wo ein Besuch aller Verwandten und Bekannten zum obligatorischen Programm gehört, und viele kehren gar nach Jahren im Ausland wieder zurück.

* Name von der Redaktion geändert.