Transsexuelle Sexarbeiterinnen in Kolumbien gründen eine eigene Zeitung

Raus aus der Schmuddelecke

Im für Drogen und Prostitution berüchtigten Stadtviertel Santa Fé in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá haben transsexuelle Sexarbeiterinnen mit »La Esquina« eine eigene Zeitschrift gegründet. Sie soll das Selbstwertgefühl der Transsexuellen stärken und als Brücke zum Rest der Bevölkerung dienen.
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Mit elf Jahren kam Halloween das erste Mal nach Santa Fé. Mit 13 entschied er, für immer zu bleiben. Halloween, das ist der Name, unter dem er in Santa Fé bekannt ist. Seinen richtigen Namen behält der mittlerweile 24jährige lieber für sich. Einen Großteil seines bisherigen Lebens verbrachte er in den fünf Straßenzügen mit schmalen, niedrigen Häusern. Dabei begriff Halloween sich die längste Zeit nicht als »er«, sondern als »sie«. Santa Fé war der Ort, wo Halloween »sie« sein durfte.

Das Stadtviertel Santa Fé in Bogotá steht für Sehnsucht – aber auch für ­Gewalt. Für kostengünstige Motelzimmer und Prostitution. Für offenen ­Drogenkonsum, Waffenschmuggel und rauschende Partys. Für die einen ist es das »Zentrum der Liebe«, für die anderen die »paradiesische Hölle«. Für ­einige ist es die Hoffnung auf ein Leben als sie selbst. Für andere ist es der Ort, an dem sie dieses Selbst vergessen können.

»Wir als Transsexuelle sind schon per se verwundbar. Aber die Gesellschaft verwundet uns noch stärker.«
Halloween, »La Esquina«

Direkt hinter dem zentralen Friedhof betritt man eine andere Welt. Nur ­wenige hundert Meter entfernt ziehen Touristenströme durch die historische Altstadt der kolumbianischen Hauptstadt. Der Weg nach Santa Fé führt hingegen durch schmale Gassen, entlang grauer Häuserfassaden. An den Bordsteinkanten sammelt sich Müll, Obdachlose nutzen Abfall als Kopf­kissen. Struppige Hunde und Ratten suchen nach Essbarem. Von den Häuserwänden blättert der Putz.

Die Fassaden direkt hinter dem Friedhof wurden vor einigen Jahren von Graffitikünstlern großflächig in bunte Farben getaucht. Die Bilder konkur­rieren nun mit blinkenden Leuchtschriften und Frauen in knappen Outfits um die Aufmerksamkeit der Passanten. Reklametafeln versprechen Liebe auf Zeit, Drogendealer den schnellen Kick. In einem Hausaufgang raucht ein junger Mann mit alten Gesichts­zügen Basuco, ein billiges Abfallprodukt aus der Kokainproduktion. Santa Fé ist eine Welt voller unsichtbarer Grenzen, mit ­eigenen Regeln und Sanktionen. Ein abgeschlossener Mikrokosmos, der für die meisten Kolumbianerinnen und Kolumbianer so exotisch wie befremdlich ist.

 

Zwischen Computer und Friseurstuhl

Halloween lockte die Sehnsucht nach Freiheit nach Santa Fé. Heute sitzt er in einem kleinen Büro im Herzen des Stadtviertels. Durch eine unauffällige braune Tür ohne ­Beschilderung gelangt man in das schmale Haus. Das oberste Stockwerk teilen sich mehrere soziale Projekte. Im vorderen Bereich entwirft die Kunststiftung »MovilizArte« gemeinsam mit Prostituierten Kleider. Hinten brüten der 23jährige LGBTI-Aktivist Ángel López, Halloween und die 49jährige Lorena über der dritten Ausgabe der Zeitschrift La Esquina. Im Gang dazwischen liegen mehrere Frauen auf dünnen Matten. Aus trüben Augen beobachten sie das Geschehen um sie herum. Ein soziales Projekt ist hier eben auch eine Auffangstation.

Vor rund einem Jahr gründete López mit anderen Bewohnern des Viertels La Esquina (die Ecke). Die Redaktion besteht mehrheitlich aus transsexuellen Prostituierten. »La Esquina war der Name, mit dem sich die Sexarbeiterinnen am besten identifizieren konnten«, sagt López. Die Ecke, das ist der Ort, an dem die Prostituierten einen Großteil ihres Lebens verbringen, der Ort, an dem sie ihrer Arbeit nachgehen, aber auch der symbolische Ort, an den der Rest der Gesellschaft sie drängt. La Esquina ist der Versuch, die Sexarbeiterinnen aus dieser Ecke zu holen.

López sortiert Fotos auf einem alt wirkenden Computer. Das Brummen des Rechners unterlegt die Gespräche mit einem monotonen Rhythmus. Von der Straße dringen Fetzen von Reggaeton-Beats durch die geschlossenen Fenster. Halloween hat einen schwarzen Frisierumhang angelegt und sitzt auf einem alten Friseurstuhl mit dunklen Kunstlederbezügen. Sein Blick schweift immer wieder zum Fenster, vom dritten Stock über niedrige Häuserdächer bis zu den gläsernen Hoch­häusern im Zentrum der Stadt, in eine andere Welt jenseits der fünf Straßen­züge.

»Die Frauen wollen kein Mitleid, sondern zeigen: Das hier ist meine Arbeit, das ist mein Zuhause.«
Ángel López, »La Esquina«

Einzelne Bluttropfen rinnen an seinem rechten Ohr entlang. Während er erzählt, rasiert ihm Lorena die Kopfhaut. Stoisch erträgt sie seine abrupten ­Bewegungen. Er redet sich in Rage, gestikuliert, rutscht auf dem Stuhl hin und her. Schroff weist Lorena ihn zurecht, wenn er sich über die kleinen Schnitte beschwert.

Die durchschnittliche Lebenserwartung einer transsexuellen Frau liegt in Bogotá bei 35 Jahren. In ihren 49 Jahren hat Lorena mehr erlebt, als sie erzählen kann. Also schweigt sie lieber. Sie beschränkt sich auf einzelne Kommentare, mit denen sie Halloweens Erzählungen unterbricht. In wenigen Sätzen erzählt sie von Tagen, deren Stunden sich beim Warten auf Kunden endlos ausdehnten. Von Nächten, die sie ohne Essen auf der Straße verbracht hat. Das verdiente Geld reichte oft ­weder für den Einkauf noch für ein Zimmer in der Nacht. Zwischendurch schnippt sie Haarflusen von Halloweens Schultern, tupft einen Bluttropfen vom Hals oder zupft sich ihre dünnen roten Haare zurecht. Von ihren spitz gefeilten Fingernägeln blättert dunkelblauer Lack.

Weil Lorena genau weiß, wie es den jüngeren Frauen mit drückendem ­Magen auf der Straße geht, war ihr eine Rubrik der Zeitung besonders wichtig: »Gourmet 10 Lukas«. Die Seite sammelt Rezepte, die für umgerechnet weniger als drei Euro vier Mägen füllen. Für Halloween war ein voller Magen noch nie ein zentrales Thema. Als er mit elf Jahren zum ersten Mal von zu Hause verschwand, lockte ihn die Aussicht auf Drogen nach Santa Fé. Betäubt war der Schritt zur Prostitution nicht weit. Der nächste Rausch musste finanziert werden. Sein Vater suchte ihn und holte ihn nach Hause. Mit 13 fand Halloween zurück ins Viertel. »Damals ­begann ich, zwischen Junge und Mädchen zu wechseln«, sagt er. Irgendwann ließ er den Schritt zurück zu »ihm« einfach aus und war nur noch »sie«. Dass Halloween sich heute wieder als »er« vorstellt, erklärt er mit dem Stigma: dem Stigma, in einem konservativen Land transsexuell zu sein. Erst der Wechsel zurück zum Mann habe ihm ermöglicht, sich wieder als Mensch zu fühlen, sagt Halloween. »Vorher war ich nur ein Stück Fleisch, sonst nichts.«

 

Perspektiven entwickeln

»Viele Personen werden von ihren Familien verstoßen, wenn sie sich als transsexuell outen«, sagt López. In ihrer Verzweiflung sehen viele nur einen Ausweg: Santa Fé. Hier treffen sie auf eine organisierte Gemeinschaft, die sie akzeptiert, wie sie sind. Die meisten Transsexuellen verlassen das Viertel kaum, denn außerhalb stehen ihnen starre Vorurteile im Weg. Aber: »Die Möglichkeiten, die sich den Frauen hier bieten, sind sehr beschränkt«, sagt López. »Entweder sie arbeiten als Friseurin oder Prostituierte.« Die Körper anderer verschönern oder den eigenen verkaufen – den Frauen bliebe kaum eine andere Wahl.

»Wir als Transsexuelle sind schon per se verwundbar. Aber die Gesellschaft verwundet uns noch stärker«, sagt Halloween. Statt in ihrer Identität bestärkt zu werden, würden Transsexuelle konstant abgewertet. »Wir selbst übernehmen das Stigma und fangen an zu glauben, dass wir für nichts zu gebrauchen sind«, sagt Halloween. Die Menschen würden zur bloßen Hülle ihrer selbst. »Wenn du attraktiv auf Klienten wirken willst, musst du ihnen erleichtern, dich als Stück Fleisch zu sehen«, sagt Halloween. Irgendwann sehe man sich selbst als eben das: ein Stück Fleisch, das »nur für einen kurzen Moment für einen anderen nützlich ist.«

Der Weg zu mehr Selbstachtung bedeutete für Halloween die Aufgabe der weiblichen Identität. Der Wechsel zurück zum Mann sei auch der Weg heraus aus der Prostitution gewesen. Als Mann begann er, für soziale Projekte der Stadt zu arbeiten – und traf dort auf eine transsexuelle Kollegin. Er begriff, dass Transsexualität auch Stolz bedeuten kann. Dieser Stolz, Selbstachtung und Anerkennung sind das primäre Ziel von La Esquina.

»Wir wollen der Bevölkerung des Viertels diese Perspektive zeigen«, sagt López. Es gehe nicht darum, die Menschen in einer Opferrolle zu bestätigen: »Die Frauen wollen kein Mitleid, sondern zeigen: Das hier ist meine Arbeit, das ist mein Zuhause.« So soll die Zeitung auch mit Stereotypen brechen. Die meisten Menschen in Bogotá kennen Santa Fé nur aus Medienberichten – oder von kurzen Stippvisiten im Schutz der Nacht. »Santa Fé ist viel mehr als Prostitution und Kriminalität«, sagt López, der selbst im Viertel lebt. »Hier leben sehr viele unterschiedliche Menschen, es gibt vielfältige soziale Netzwerke.« Die Zeitung wolle eine Brücke schlagen zwischen den Sexarbeiterinnen und jenem Teil der Bevölkerung, der teils schon seit Generationen im Viertel lebt.

Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation Parces stammen 90 Prozent der Prostituierten in Bogotá aus anderen Regionen Kolumbiens. Der Großteil der Prostitution in der Stadt ist in Santa Fé konzentriert. Offiziellen Schätzungen von 2009 zufolge sollen etwa 3 500 bis 4 000 Prostituierte in dem Viertel arbeiten. Aktivisten wie López gehen von einer fünfstelligen Dunkelziffer aus. Aktuelle Zahlen gibt es nicht. Etwa 130 Stundenhotels und Bordelle sind nach Angaben der Stadtverwaltung hier registriert.