Der Schriftsteller Cornell Woolrich beeinflusste den Film Noir

Der unbekannte Dritte

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Der Protagonist von »Der schwarze Vorhang« etwa erwacht zu Beginn des Buches durch den Zusammenstoß mit einem Passanten aus einem ­Gedächtnisverlust und muss erkennen, dass er sich vor langer Zeit von seiner Frau getrennt hat und unter falschem Namen in einen Mordfall verwickelt gewesen ist. Um sich seiner Unschuld zu versichern, bemüht er sich um Rekonstruktion der entscheidenden vergessenen Tage. Schließlich gelingt es ihm, die wahren Täter zu überführen, doch warum er das Gedächtnis verloren und weshalb er sich eine falsche Identität zugelegt hat, bleibt ungeklärt. Die Fähigkeit, sich das Leben als zusammenhängende Geschichte zu erzählen, haben fast alle Protagonisten Woolrichs eingebüßt. Seine Romane berichten von stets nur fragmentarisch gelingenden Versuchen, jenen Zusammenhang wiederherzustellen. In »Der schwarze Engel« ist es die Frau des wegen Mordes an seiner Geliebten zum Tode verurteilten Pro­tagonisten, die dessen Leben zu rekonstruieren sucht, um seine Unschuld zu beweisen, in »Rendezvous in Schwarz« wird der Protagonist zum Ergründer der Lebensgeschichte seiner Geliebten, nachdem diese der fahrlässigen Tötung angeklagt worden ist. Immer sind detektivisches und biographisches Rätsel miteinander verbunden, doch aufklären lässt sich nur der Kriminalfall.

In Woolrichs späteren Romanen verschmelzen biographische und kriminalistische Ermittlung. »Waltz into Darkness« (»Walzer in der Dunkelheit«, 1947) erzählt die Geschichte eines Mannes, der eine Frau heiratet, die er nur aus Briefen kennt, und der sich, indem er in ihr Leben verwickelt wird, in ein Verbrechen verstrickt. »I Married a Dead Man« (»Ich heiratete einen Toten«, 1948) nimmt mit seinem Plot um eine Frau, die nach einem Unfall ihre Identität mit einer anderen tauscht, Elemente der Krimis vorweg, die das französische Autorenduo Pierre Boileau und Thomas Narcejac seit den Fünfzigern herausbrachte. Wie die Protagonisten von Woolrichs Büchern verfangen sich ihre Figuren in von Freunden, Geliebten oder Verwandten gesponnenen Intrigennetzen und sind bei dem Versuch des Entkommens auf sich selbst verwiesen. Denn wie bei Woolrich gibt es keine Ermittler mehr, die Figuren müssen die Komplotte, denen sie zum Opfer fallen, allein rekonstruieren. Im Extremfall konvergieren die Rollen von Opfer, Täter und Detektiv in derselben Person: Auch dieses Handlungsmodell, als dessen Erfinder sie oft gelten, haben Boileau und Narcejac bei Woolrich vorgefunden. Verbrechen und Rätsel sind nichts vom Alltag Abgrenzbares mehr, sondern verdichten sich derart, dass das Leben selbst als Komplott erscheint. Boileau und Narcejac, nur wenige Jahre jünger als Woolrich, haben so vor dem Hintergrund des Nachkriegsfrankreich (in ihren frühen Büchern ist die Geschichte der Kollaboration allgegenwärtig) Motive des amerikanischen Krimis der dreißiger Jahre aktualisiert.

Mit den beiden Franzosen teilte Woolrich das Schicksal, ein Leben lang der unbekannte Autor von Vorlagen weitaus bekannterer Filme zu sein. Vier Jahre nach »Das Fenster zum Hof« verfilmte Hitchcock mit »Vertigo« einen Roman von Boileau und Narcejac, schon 1955 hatte ­Henri-Georges Clouzot eines ihrer Bücher als Vorlage für »Die Teuflischen« verwendet, mit dem er an den Film Noir anknüpfte. Dessen Regisseure wiederum haben sich immer wieder bei Woolrich bedient: »Zeuge gesucht« von Robert Siodmak (1944), »Die Nacht hat tausend Augen« von John Farrow (1948) und »Das unheimliche Fenster« von Ted Tetzlaff (1949) beruhen alle auf Werken von Woolrich. Der hat der schlecht belohnten Popularität seiner Bücher so wenig abgewinnen können wie ­seiner späteren Wiederentdeckung durch die Nouvelle Vague, die ihm wie die gesamte kulturelle Aufbruchsbewegung der sechziger Jahre fremd blieb. Als François Truffaut 1968 eine Adaption von »Die Braut trug schwarz« in die Kinos brachte, blieb Woolrich der Premiere fern. Dass Rainer Werner Fassbinder sechs Jahre später mit »Martha« seinen vielleicht besten Film auf der Grundlage von Woolrichs Kurzgeschichte »For the Rest of Her Life« (»Für den Rest ihres Lebens«, 1968) drehte, hat ­dieser nicht mehr erlebt. Sein Tod am 25. September 1968 wurde von den Medien kaum notiert.