Was kümmert mich der Dax - Lenin und die Arbeitsmigration

Muffige Linke

Kolumne Von

Früher war nicht alles  besser, aber manches einfacher. Mit einem gut gewählten Lenin-Zitat konnte man in den siebziger Jahren eine Debatte für sich entscheiden. Das offenbarte Autoritätshörigkeit, doch diskutierte man immerhin auf einer theo­retischen Grundlage, die, wenngleich nunmehr rund 100 Jahre alt, in vielerlei Hinsicht dem Kenntnisstand der meisten heutigen Linken weit voraus war. So pries Lenin 1913 die Arbeitsmigration, da sie »die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen ­Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört«, und stellte fest: »Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben.«

Lenin war zu optimistisch, was die Zerstörung der nationalen Schranken und Vorurteile betrifft. Fernab des derzeit modischen Befindlichkeitskults stellte er jedoch die Erfordernisse des globalen Klassenkampfs in den Vordergrund, verwies darauf, dass die »Entwicklung des Kapitalismus«, heute Globalisierung genannt, die Voraussetzungen für dessen Überwindung schafft und die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu vermeintlich gemütlicheren Formen der Warenproduktion reaktionär ist.

Wenn die Fraktionen um Jeremy Corbyn und Sahra Wagenknecht, die gegenwärtig die radikalste Variante der machtpolitisch relevanten Linken repräsentieren, zurück zur Muffigkeit des lokalen Lebens wollen, ist das kein bedauerlicher Spleen ansonsten aufrechter Klassenkämpferinnen und Klassenkämpfer. Nur der Nationalstaat, so heißt es aus diesen Kreisen, garantiere den Schutz der Lohnabhängigen. Tatsächlich sind es die Regierungen der Nationalstaaten gewesen, die die Privatisierungs-, Deregulierungs- und Austeritätspolitik erst im eigenen Land und dann in internationalen Institutionen durchsetzten. Diese Konkurrenz der Staaten um möglichst günstige Bedingungen für die Kapitalverwertung kann durch Klassenkämpfe auf nationaler Ebene gebremst, aber nicht überwunden werden. Die Iden­tifikation mit dem Nationalstaat zwingt zur Identifikation mit dem »nationalen Interesse«, also dem der jeweiligen Bourgeoisie, im globalen Konkurrenzkampf.

Demzufolge ist auch der an der Migration gehinderte Lohnabhängige ein Konkurrent, den es zu übervorteilen gilt, mag man sich auch in internationalistischen Phrasen mit ihm solidarisieren. Der Kampf gegen Corbynismus und Wagenknechtianismus ist daher von weltpolitischer Bedeutung. Setzt sich der Linksnationalismus in der Linken durch, schwindet die Chance, den Rückfall in die nationale Abschottung mit ihren verheerenden politischen und ökonomischen Folgen zu verhindern.