Stadtgesellschaften in Europa und den USA wollen eine andere Flüchtlingspolitik

Zweierlei Solidarität

Seite 2

Das könnte sich bald ändern. Im vergangenen Jahr haben Flüchtlingsräte, migrantische Organisationen, Willkommensinitiativen, stadtpolitische NGOs, kirchliche Gruppen und Wissenschaftler aus Berlin, Köln, Frankfurt, Bern und Zürich, aber auch aus zahlreichen kleineren deutschen Städten, das alternative Städtenetzwerk »Solidarity City« gegründet (siehe Seite 5). Das Bündnis setzt sich nicht nur für Abschiebestopps und die direkte Aufnahme von Flüchtlingen in den beteiligten Städten ein, sondern will auch »Verhandlungen mit kommunaler Politik und Verwaltung«.

Vertreten sind bei »Solidarity City« auch Mitglieder von Watch the Med Alarmphone, dem trans­national organisierten Notruftelefon für Menschen in Seenot. Sie haben nun begonnen, die Kampagne weiter zu internationalisieren. Gespräche gibt es seit diesem Frühjahr unter anderem mit den Bürgermeistern von Barcelona, Neapel und Palermo.

Die Netzwerke für solidarische Städte in Europa beziehen sich zum einen auf die von Palermos Bürgermeister Orlando im Jahr 2015 veröffentlichte Charta von Palermo. Darin fordert Orlando die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung, die Verknüpfung bürgerlicher Rechte mit dem Wohnort sowie die bedingungslose Gewährleistung des Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit.

Ein zweiter wichtiger Bezugspunkt ist die »Sanctuary«-Bewegung in Nordamerika. In den USA entstand diese während der zentralamerikanischen Bürgerkriege der achtziger Jahre. Damals flohen Hunderttausende vor den Militärdiktaturen in El Salvador und Guatemala in die USA. Die Regierung Ronald Reagans gewährte nur den wenigsten Asyl. Es waren zunächst vor allem christliche Gruppen im Südwesten des Landes, die zentralamerikanischen Flüchtlingen Zuflucht boten. 1982 entschieden sich die Vereinigten Presbyterianischen Kirchen der US-amerikanischen Südstaaten, die Einwanderungsgesetze öffentlich zu brechen und den Geflüchteten in ihren Kirchengebäuden Asyl zu gewähren. Im Verlauf der achtziger Jahre schlossen sich auch zahlreiche Städte der »Sanctuary«-Bewegung an, es entstanden »Sanctuary Cities«: 1985 verabschiedete die Stadtregierung von San Francisco die »City of Refuge«-Resolution und kurze Zeit später eine Anordnung, die die Verwendung städtischer Budgets und städtischen Personals für Bundesmaßnahmen der Migrationsabwehr verbietet. Die Weigerung US-amerikanischer Kommunen, mit den Bundesbehörden bei der strafrechtlichen Verfolgung, Inhaftierung und Abschiebung irregulärer Migranten zu kooperieren, ist das gemeinsame Merkmal der »Sanctuary«-Bewegung, die inzwischen mehr als 560 US-amerikanische und kanadische Städte, Bezirke und Bundesstaaten umfasst.

Seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump 2017 sind die US-amerikanischen Zufluchtsstädte allerdings unter Druck. Trump drohte wiederholt, den »Sanctuary Cities« die Haushalte zu beschneiden, sollten sie sich weiter der Kooperation mit den Bundesbehörden bei der Verfolgung irregulärer Migranten verweigern. Darauf reagierten die Bürgermeister von New York, Chicago und Los Angeles mit öffent­lichen Bekenntnissen zu einer solidarischen und multikulturellen Stadt­gesellschaft.

Auch Städte wie New York experimentieren mit städtischen Ausweisdokumenten. Die sogenannte City-ID soll den »Illegalen« die Teilhabe am städtischen Leben ermöglichen. Doch der Schutz undokumentierter Migranten vor dem Zugriff der Bundesbehörden hat in US-amerikanischen »Sanc­tuary Cities« Priorität.

Schutz vor Abschiebung gilt dem alternativen Städtenetzwerk »Solidarity City«, wie es auf der Homepage heißt, als Voraussetzung dafür, »solidarische Orte und Strukturen einer ›Stadt für alle‹ zu entwickeln«, in der die »Menschen unabhängig von Status und finanziellen Kapazitäten wohnen, arbeiten und leben« könnten. Das macht die Kampagne auch für andere stadtpolitische soziale Bewegungen attraktiv. Darüber hinaus geht es »Solidarity City« um die Städte als »sichere Häfen« für aus Seenot gerettete Menschen. ­Dagegen sind die bessere Koordination sowie der Ausbau der Infrastruktur europäischer Großstädte für ein effizienteres »Flüchtlingsmanagement« zentrale Anliegen des Städteverbunds »Solidarity Cities«.

Die Interessen sind also verschieden. Watch the Med Alarmphone stellt in einem Bericht vom 27. Juni die These auf, dass »die Ebene der Stadt zu einem Raum für progressive Politik in Europa geworden« sei. Das »World Economic Forum« (WEF) hingegen hebt in einer Studie von 2017 zu den Auswirkungen von Migration in Großstädten weltweit hervor, dass eine inklusive städtische Migrationspolitik die »ökonomische Entwicklung« im urbanen Raum positiv beeinflusse. Ob die solidarische Stadt ein Ort radikaler Demokratisierung oder ein Experimentierfeld neoliberaler Formen von diversity wird, ist noch offen. Die Städte, die sich Zuflucht und Solidarität auf die Fahnen schreiben, haben jedoch verstanden, dass viele davon profitieren, wenn Migration nicht länger als gesellschaftliche Belastung, sondern als Chance begriffen wird.