Raqqa galt als die Hauptstadt des selbsternannten Kalifats. Vor fast einem Jahr wurde sie befreit, nun kehrt langsam das Leben zurück. Ein Besuch.

Raqqa versucht den Neuanfang

Seit Oktober 2017 ist der »Islamische Staat« aus Raqqa vertrieben. Die Befreiung der Stadt hatte einen hohen Preis, das Ausmaß der Zerstörung ist noch immer gewaltig. Trotzdem sind mittlerweile rund 100 000 Menschen nach Raqqa zurückgekehrt, fest entschlossen, die Stadt wieder­aufzubauen.
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Raqqa. »Schauen sie bitte oben rechts, da müsste eine Zahnfüllung sein.« Ahmeds Mutter steht am Rande des Massengrabs und gibt den Männern der ehrenamtlichen Mitarbeiter des Zivilschutzes Anweisungen, wie sie nach den Überresten ihres Sohnes suchen sollen.

Alles, was sie weiß, ist, dass Ahmed vor Monaten von Kämpfern des »Islamischen Staats« (IS) getötet und in ein offenes Grab geworfen worden ist. Ahmeds ­Mörder benutzten dafür das Fußballfeld, auf dem Ahmed immer mit seinen Freunden gespielt hatte.

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Noch immer sind in Raqqa nicht alle Leichen identifiziert. Ehrenamtliche Helfer unterstützen den Zivilschutz dabei

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Linda Dorigo

Die Männer schauen hoch, es scheint sich wirklich um Ahmed zu handeln. Seine Mutter blickt wie versteinert in das Grab, sie sagt kein Wort, keine ­Tränen fließen. Die Stille dauert nur wenige Minute, danach werden Ahmeds Überreste – sein Skelett, mit der Kleidung, die er am Tag seines Todes trug – in einen blauen Sack gepackt und auf den Laster gebracht, der am Ende des Tages die identifizierten Toten zum Friedhof bringen wird.

Während Ahmeds Mutter langsam in Richtung Ausgang läuft, stellt sich eine weitere Frau den Helfern vor. Sie zeigt ihnen Fotos auf einem Handy. Auch sie ist dort, um nach ihrem Sohn zu suchen.

Fast ein Jahr ist vergangen, seit die kurdisch-arabischen Syrian Democratic Forces (SDF) und die sie unterstützenden US-Truppen die Hauptstadt des selbsternannten Kalifats  befreiten. Zunächst die Machtergreifung des IS und dann die Befreiung haben Raqqa, vor Beginn des Kriegs eine der reichsten Städte Syriens, in einen gigantischen Trümmerhaufen verwandelt. Unter den mitunter riesigen Schuttbergen ­befinden sich noch unzählige Tote, was mit Beginn des Sommers zu einem ernsthaften Problem für die hygienischen Zustände in der Stadt werden könnte. Mittlerweile sind mehr als 100 000 Menschen zurückgekehrt.

»Wenn wir diese Arbeit nicht machen, wird Raqqa nie wieder auferstehen«, sagt Mahmud, Anfang dreißig, der zwischen 2011 und 2013 arabische Literatur an einer Sekundarschule der Stadt unterrichtete. Seit der Befreiung gehört er zu einem Team aus 16 ehrenamtlichen Helfern des Zivilschutzes, die nach den sterblichen Überresten vieler vermisster Bewohner der Stadt suchen.

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Am Ende des Tages werden die identifizierten Toten zum Friedhof gebracht

 

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Linda Dorigo

»Es ist ein sehr harter Job«, erzählt er, während er sich den Schweiß von der Stirn wischt. »Können Sie sich das ­vorstellen, ich war früher Lehrer.« Er lächelt kurz. »Aber ich habe mich an diese Arbeit gewöhnt, es ist sogar eine Art Therapie für mich, sonst wäre diese sinnlose Katastrophe für mich einfach nur unerträglich.«

»Raqqa war Schauplatz eines internationalen Konflikts, der Westen darf jetzt nicht die Augen verschließen.«
Leila Mustafa, Präsidentin des Zivilrats von Raqqa

Sein Kollege, der ebenfalls Mahmud heißt, ist ein etwas älterer Mann um die 60: »Ich bin ein ganz normaler Allgemeinarzt, aber seit vielen Monaten führe ich Autopsien durch und klassifiziere Tote, weil es in ganz Raqqa keine Gerichtsmediziner mehr gibt.« Jeden Tag untersuche er stark verweste Leichen in der Hoffnung, irgendein Merkmal zu finden, das ihnen eine Identität, einen Namen zurückgibt. »Bislang ­haben wir mehr als 800 gezählt«, berichtet er, »soweit wir feststellen konnten, sind ungefähr die Hälfte Zivilisten, die andere Hälfte sind IS-Kämpfer.« Wie sich das anfühlt? »Mit der Zeit gewöhnt man sich auch an diesen Horror. Ich muss bloß aufpassen, nicht zu lange auszuruhen, die Pausen kurz zu halten. Denn sonst holt mich die Verzweiflung ein, wenn ich mich umsehe.«

Dabei sind Zeichen eines langsamen Neuanfangs im Stadtbild Raqqas immer deutlicher zu sehen. Im Zentrum gibt es Fast-Food-Läden und sogar ­einige bessere Restaurants, eine Apotheke und ein paar Modeläden, in ­denen die Kleidungsstücke auf Stühlen und auf Kleiderbügeln in Schaufenstern hängen, sowie einen Obst- und Gemüsemarkt entlang der Haupt­straße. Es gibt aber weder Strom noch fließendes Wasser, keinen Telefonempfang, ganz zu schweigen von Internet. Die konstante Geräuschkulisse ist die von den Generatoren, die sich jeder, der ein Geschäft betreiben will, besorgen muss, neben dem Krach der Aufräumarbeiten, die ständig irgendeine Straße vom Schutt befreien sollen.

Im neuen Sitz des Zivilrats Raqqa Civil Council (RCC), der die Verwaltung der Ruinenstadt übernommen hat, treffe ich die Präsidentin, Leila Mustafa, die keinen Hehl aus ihrer Befürchtung macht, dass die internationale Gemeinschaft sich nicht mehr für die Zukunft ihrer Stadt interessiere, die zum Symbol des Kampfs gegen den IS geworden ist.
 

»Wir brauchen alles«

Einige beunruhigende Hinweise darauf gibt es bereits. Im März kündigte US-Präsident Donald Trump an, rund 200 Millionen Dollar für den Wiederaufbau zu streichen und die US-Truppen »so schnell wie möglich« aus Syrien abzuziehen. Viele der insgesamt 2 000 in Syrien stationierten US-Soldaten sind in Raqqa direkt am Wiederaufbau beteiligt. »Wir brauchen alles«, sagt Leila Mustafa, »Frankreich hat 50 Millionen Dollar versprochen, auch Italien und Norwegen haben ihre Bereitschaft erklärt, den Wiederaufbau mitzufinanzieren. Raqqa war Schauplatz eines internationalen Konflikts, der Westen darf jetzt nicht die Augen verschließen und soll Verantwortung übernehmen.«

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Die Präsidentin des Zivilrats, Leila Mustafa, beklagt mangelnde internationale Hilfe beim Wiederaufbau

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Linda Dorigo

Wichtig für den Prozess des Wiederaufbaus ist auch die Minenräumung. Seit Oktober 2017 wurden rund 1 000 Menschen durch Minen entweder ­getötet oder so schwer verletzt, dass sie Amputationen erleiden mussten. Bei den Sprengkörpern handelt es sich nicht nur um Landminen. Manche Sprengfallen befinden sich an den unmöglichsten Orten, auch in zerstörten Wohnungen. Wenn die Stadtbewohner in ihre alten Häuser zurückkehren und einen Kühlschrank öffnen oder einen Wasserhahn aufdrehen, können sie eine tödliche Detonation auslösen.

Nach Beginn der türkischen Militär­offensive, der Operation »Olivenzweig«, und nach der türkischen Übernahme der Stadt Afrin sind viele inter­nationale Finanzmittel in die kurdische Enklave geflossen, was bei der arabischen Bevölkerung für Unmut gesorgt hat.

»Während der Besatzung starben die Menschen schon, bevor sie ein Krankenhaus erreichten, viele wurden auf dem Weg dahin von Scharfschützen ­getötet«, erzählt Hami, eine Krankenpflegerin der Hilfsorganisation »Kurdischer Roter Halbmond«. Seit 2013 hat sie so gut wie alle Fronten des Kriegs in Nordsyrien gesehen. »Auch heute kommen viele schon tot an, das liegt an den Minen. Wenn wir Glück haben, fehlt ihnen nur ein Arm oder ein Bein.«

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Raqqa ist zwar befreit vom IS-Terror – doch überall in der Stadt liegen noch die Minen und Sprengfallen

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Linda Dorigo

Jerry Guilbert, der das Programm für Waffenbeseitigung des US-amerikanischen Bureau of Political-Military Affairs leitet, sagt, dass die USA rund 38 Millionen Dollar investiert hätten, um ­Minen und sonstige Sprengkörper in Raqqa, Tabqa und Manbij zu ent­fernen – einem 15,5 Millionen Quadratmeter umfassenden Gebiet. Trotzdem sterben Leute immer noch durch Detonationen nur, weil sie eine falsche ­Bewegung machen.

Die US-amerikanischen Mittel werden zudem nur für öffentliche Einrich­tungen und Gebäude benutzt, nicht für Privathäuser. Die Minenräumung bleibt also größtenteils Aufgabe des RCC und einzelner Bürger, die das ehrenamtlich betreiben.

Nach Beginn der türkischen Militär­offensive, der Operation »Olivenzweig«, und nach der türkischen Übernahme der Stadt Afrin sind viele inter­nationale Finanzmittel in die kurdische Enklave geflossen, was bei der arabischen Bevölkerung für Unmut gesorgt hat.

»70 Prozent der Stadt sind zerstört«, sagt Leila Mustafa, »wir brauchen ­Infrastruktur, Baumaschinen, die Wasserleitungen müssen neu gemacht werden, wir müssen die Bedingungen schaffen, damit die Bewohner zurückkehren können.« Es gehe alles viel zu langsam voran. Trotzdem ist in den vergangenen Monaten viel passiert. »Bis jetzt haben wir 35 Schulen wiederer­öffnet, es gibt vier ausgestattete Krankenhäuser und drei befinden sich im Bau, dank internationaler Unterstützung.«

Die Männer, die sich vor Ahmeds ­Laden versammelt haben, sprechen aus, was viele, die nach Raqqa zurückgekehrt sind, denken. »War es wirklich nötig, alles dem Erdboden gleich­zumachen?« sagt einer von ihnen. Mit »sie« meint er die US-geführte Anti-­IS-Koalition, welche die Offensive der SDF vor allem aus der Luft unterstützte. Bei den Luftangriffen kamen in Raqqa Hunderte Zivilisten ums Leben, Tau­sende wurden verletzt, wie auch der jüngste Bericht von Amnesty Inter­national vom 5. Juni dokumentiert.

Obwohl viele Schulen wieder geöffnet haben, wie Leila Mustafa schildert, treiben sich viele Kinder noch auf den Straßen herum. »Die da sind höchstens acht Jahre alt«, regt sich ein älterer Mann auf, während er auf eine Gruppe von Kindern zeigt, »was tun sie hier, sie sollten um diese Uhrzeit in der Schule sitzen.« Das Problem in Raqqa sind nicht nur die zerstörten Schulgebäude. Auch das Straßennetz ist komplett zusammengebrochen. Kaum eine Brücke steht noch, keine wurde bisher wiederaufgebaut.

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70 Prozent der Stadt sind zerstört

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Linda Dorigo

Eine der nicht zerstörten Brücken verbindet Raqqa mit dem Dorf Karama. Hier versucht der Dorfvorsteher rund 16 junge Männer, die früher Anhänger des IS waren und deswegen nach der Befreiung der Stadt mehrere Monate im Gefängnis saßen, wieder in die Gesellschaft zu integrieren, etwa durch die Vermittlung von Arbeit. »Bisher nur kleine Jobs, nichts Festes, die Jungs müssen sich erst einmal innerlich s­tabilisieren«, sagt der Mann, der sich trotzdem sicher ist: »Sie werden bald wieder Teil der Gesellschaft, wenn es wieder eine gibt. Zumindest mit dem Rauchen haben sie bereits wieder angefangen.«

Journalisten trauen die jungen Männer nicht, schon gar nicht, wenn sie Frauen sind. Sie wollen nicht erzählen, wie sie zum IS kamen und was sie in der Zeit im Gefängnis erlebt haben. Aus diesem Dorf waren es rund 100 Männer, die mit dem IS zusammengearbeitet haben. Auf die Frage nach den Gründen schüttelt der Dorfvorsteher etwas ratlos den Kopf: »Wegen Geld. Und aus Langeweile.«

Wenn er mit Langeweile die Perspektivlosigkeit meint, ist die Situation für junge Menschen nun sicher nicht einfacher. Dem alten Mann bleibt zunächst nur sein Optimismus: »Wir brauchen erst einmal nicht viel. Schon einen Wasserhahn aufzudrehen oder die Kinder zur Schule zu bringen, gibt uns Hoffnung.«

 

Aus dem Italienischen von Federica Matteoni.