Hannes Bajohr, Literaturwissenschaftler, im Gespräch über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Literatur

»Ins Digitale verstrickt«

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Interview Von

Sie behaupten, die digitale Literatur stehe »fester im Jetzt als all die monierten Schreibschulabsolventen und gelobten Echte-Welt-Romanciers«. Worin liegt der Realismus einer Literatur, die mit ­Algorithmen arbeitet?
Kessler schrieb damals von den wenigen Nichtmittelschichtskindern seines Gymnasiums: »In den gelingendsten Fällen wurden sie App-Entwickler«, nicht Schriftsteller. Wenn ich am gleichen Realismusbegriff festhalte, der den Gegenwartsroman bis auf wenige Ausnahmen bestimmt, müsste ich Kessler folgend eigentlich einen App-Entwickler-Roman schreiben. Das gibt es ja schon – mein Lieblingsbeispiel ist da immer Jonathan Franzens »Unschuld«, wo eine Snowden-artige Figur auftaucht –, aber er berührt nur den Inhalt von ­Literatur und den nur minimal: Jetzt verwenden plausible Figuren außerdem noch erkennbare moderne Digitaltechnik. Aber statt solche Technik nur zu beschreiben, würde ein digitaler Realismus auch noch die veränderte Wirklichkeitserfahrung selbst darstellen.

Für Ihr Buch »Glaube Liebe Hoffnung« haben Sie über drei Monate 282 596 Facebook-Kommentare der Pegida-Seite und ihrer Ableger gesammelt. Alle Kommentare, die mit »ich glaube«, »ich liebe« und »ich hoffe« beginnen, haben Sie alphabetisch sortiert publiziert. Warum sollte man das Buch lesen?
Das Projekt entstand mit Gregor Weichbrodt, mit dem ich zusammen das Textkollektiv 0x0a betreibe. ­Pegida organisierte zu dieser Zeit, das war Ende 2014, ihre Demonstrationen allein über Facebook-Seiten. Auf ihnen wurde auch kräftig kommentiert und da war für uns zum ersten Mal geballt diese Form von selbst­verstärkender Hate Speech sichtbar, die man vorher nur isoliert gesehen und nicht mit echter politischer Wirkmacht verbunden hatte. Seit Trump hat man sich ja fast daran gewöhnt, aber man vergisst leicht, wie jung diese allein über soziale Netzwerke vermittelte Entwicklung ist. Jedenfalls haben wir gesehen, dass die Organisatoren die Einträge nach wenigen Tagen immer löschten und damit auch alles Kommentierte. Zunächst aus Dokumentationszwecken schrieb Gregor ein Skript, das die Kommentare zweimal am Tag in einer immer weiter anwachsenden Datei speicherte. Am Ende waren das dann etwa 80 MB reiner Text. Dieser Korpus war so groß, dass er schon zur empirischen Analyse taugt, und in der Tat gibt es inzwischen einige soziolinguistische Studien zu Pegida, die auf Gregors Korpus beruhen. Der Nutzen hier ist offensichtlich. Aber wissenschaftliche Analyse ist nur eine Möglichkeit, sich solchen Textmengen zu nähern. Man kann »Glaube Liebe Hoffnung« als literarische Aufbereitung eines Forschungsergebnisses verstehen, das darin bestand, die Verteidiger des christlichen Abendlandes mit den christlichen Tugenden zu konfron­tieren. Auch das ist eine Form von Realismus, der digital ermöglicht worden ist und eine digitale Wirklichkeit darstellt.

Der ebenfalls mit digitalen Verfahrensweisen arbeitende Dichter Jörg Piringer sagt über die Lyrik der Zukunft: »die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen und konzernen die hoheit über die sprachalgorithmen überlassen. sie werden für rechenmaschinen schreiben. sie werden die computer umprogrammieren. die spracherkennungssysteme der mobiltelefone hacken. datenpoesie erstellen.« Wäre es nicht subversiver, den Rechner auszuschalten und wieder zum Bleistift zu greifen?
Das erinnert mich an Hans Magnus Enzensberger, der vor ein paar Jahren unter dem Titel »Regeln für die digitale Welt« dazu aufrief, statt E-Mails nur noch Postkarten zu schreiben. Soll er. Aber dann muss er auch wissen, dass das Digitale nicht bei der Postkarte endet, oder beim Bleistift, um mal bei Ihrem Literaturbeispiel zu bleiben. Sie dürften kein Manuskript mehr in Textdokumenten speichern, es nicht per E-Mail an den Verlag schicken, den Satz nicht mehr per Desktop Publishing gestalten und per Digitaldruck herstellen, die Datenbank des Verzeichnisses liefer­barer Bücher nicht mehr bewirtschaften und müssten das Postsystem umgehen, das wie alle kom­plexeren Wirtschafssysteme digital organisiert ist. Natürlich gibt es eine Bewegung, die so denkt, die etwa wieder auf Siebdruck setzt und Bücher ohne ISBN produziert. Mir erscheint das aber im besten Fall etwas romantisch und weltfremd und im schlimmsten reaktionär. Das heißt natürlich nicht, dass man Digitalisierung in allen ihren Facetten enthu­siastisch begrüßen soll, ganz im Gegenteil – aber aus Unwissen ist noch nie substantielle Kritik erwachsen. Das meint Piringer und darin stimme ich ihm zu: Digitale Literatur ist Literatur, die im Idealfall digitale Prozesse offenlegen kann, aber doch nur, wenn die Schreibenden wissen, wie sie funktionieren. Enzensberger wusste jedenfalls nicht, dass er auch jenseits des E-Mail-Schreibens unweigerlich ins Digitale verstrickt ist. Die Digitalisierung ist nicht weg, wenn man sie ignoriert, und Gegenwartsliteratur sollte sich mit ihr ­befassen.

 

Hannes Bajohr, 1984 in Berlin geboren, ist Übersetzer und Herausgeber von den Werken der US-amerikanischen ­Politologin Judith N. Shklars. Er wohnt in New York und Berlin und gehört zum ­literarischen Experimentalkollektiv oxoa.

Hannes Bajohr: Halbzeug – Textverar­beitung. Suhrkamp, Berlin 2018, 104 Seiten, 16 Euro