Die Proteste gegen den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega dauern an

Von Somoza zu Ortega

Seit Wochen erlebt Nicaragua die größten Massenproteste seit Beginn der zweiten Präsidentschaft Daniel Ortegas. Was als Widerstand gegen geplante Sparmaßnahmen begann, ist nach dem Tod Dutzender Demonstrierender zur Fundamentalopposition gegen den einstigen Hoffnungsträger der Linken geworden.

»Niemand sah es kommen«, schreibt die nicaraguanische Journalistin Tania Montenegro. Tatsächlich mag es verwundern, dass seit Mitte April Zehntausende Menschen gegen die Regierung Präsident Daniel Ortegas und seiner Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) protestieren. Denn sie hat Erfolge vorzuweisen: Nicaragua gilt als eines der sichersten Länder Lateinamerikas. Dem World Economic Forum zufolge belegt das Land weltweit Platz sechs der Liste der Länder mit der höchsten Geschlechtergerechtigkeit. Ein kontinuierlich hohes Wirtschaftswachstum hat Sozialprogramme ermöglicht, die die die Armut reduziert haben.

Doch seit die venezolanische Regierung wegen der Krise im eigenen Land ihre Verbündeten nicht mehr großzügig mit Petrodollars unterstützen kann, gerät auch Nicaragua ins Straucheln. So verkündete Ortega am 16. April eine ­Reform des defizitären Instituts für soziale Sicherheit (INSS). Diese sah unter ­anderem eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge für Beschäftigte und Unternehmen sowie Rentenkürzungen vor. Gegen die Regierungspläne regte sich an den Universitäten der Hauptstadt ­Managua sofort Widerstand. Diesem schlossen sich Protestierende an, die bereits seit zwei Wochen aufgrund des Waldbrandes im Naturreservat Indio Maíz gegen die Regierung protestiert hatten.

Seit dem 3. April brannte die »grüne Lunge Mittelamerikas« im Südosten des Landes über zehn Tage lang. Dem Umweltschützer Jaime Incer zufolge ist dies »die dramatischste ökologische Katastrophe, die Nicaragua je erlebt hat«. Bald wurde der Regierung vorgeworfen, sie sei untätig und weigere sich, internationale Hilfe anzunehmen. Medien und NGOs berichteten, dass die Polizei Demonstrationen auflöse und die Berichterstattung verhindert werde. Die Umweltschutzorganisation Fundación del Río spricht davon, dass es »höchst unwahrscheinlich ist, dass die Brände natürlich entstanden oder spontan verursacht« worden seien. Auf regierungskritischen Websites wird der Brand mit den Plänen für den Bau des Nicaragua-Kanals in Verbindung gebracht, der Pazifik und Karibik verbinden soll. Eine mögliche Route des Milliardenprojekts verläuft durch das Reservat Indio Maíz. Obwohl noch kein Spatenstich für das Projekt getan wurde, dient es der Regierung als ­Vorwand für Enteignungen und Vertreibungen von Kleinbauern im Süden des Landes.

Es brodelt also schon seit längerem im Land, das seit 2006 von Ortega immer autoritärer regiert wird. Immer häufiger wird der Vergleich zwischen der Regierung Ortegas und der Diktatur des Somoza-Clans von 1934 bis 1979 bemüht. Dessen Herrschaft wurde 1979 mit dem Sturz Anastasio Somoza Debayles durch die sozialistische Guerilla FSLN beendet. In der Folge der Revolution regierte Ortega das Land zum ersten Mal, zunächst als Mitglied der Regierungsjunta, von 1985 bis 1990 dann als gewählter Präsident. Das Ausmaß an Brutalität, mit der Polizei, Militär und sandinistische Schlägertrupps gegenwärtig gegen die Protestierenden vorgehen, hat Nicaragua tatsächlich zuletzt während der Somoza-Diktatur ­erlebt. »Ortega, Somoza, das ist die gleiche Sache«, ist dieser Tage eine der am häufigsten skandierten Parolen.

Am 18. April begannen Studierende an der Polytechnischen Universität in Managua, friedlich zu demonstrieren und Universitätsgebäude zu besetzen, wobei sie von bewaffneten Gruppen der Sandinistischen Jugend attackiert wurden. Am zweiten Protesttag waren bereits die ersten Todesopfer zu beklagen. In Erinnerung an die Toten nennen sich die Studierenden »Bewegung 19. April«. Nun brachen in allen Landesteilen, auch in den sandinistischen Hochburgen Estelí und León, Proteste aus, die weit über das studentische Milieu hinausgehen. Dem Menschenrechtszentrum Cenidh zufolge sind bislang 45 Menschen im Zuge der Proteste gestorben, darunter zwei Polizisten sowie ein Journalist, der Medienberichten zufolge durch einen Kopfschuss getötet wurde. Nach Ausschreitungen kam es auch zu Plünderungen und Brandschatzungen sowie Angriffen auf Regierungsgebäude. Symbolträchtig ist das Niederreißen der »Lebensbäume«. Diese 17 Meter hohen Metallkonstruktionen hatte die esoterisch gesinnte Stellvertreterin und Ehefrau Ortegas, Rosario Murillo, für Millionenbeträge in Managua aufstellen lassen.

 

Mittlerweile geht es also nicht mehr nur um den Widerstand gegen Sozialkürzungen, diese hatte Ortega bereits am 22.April zurückgenommen. Vielmehr geht es um ein Ende des Systems Ortega.

Seit 2006 hat Ortega ein Klientelsystem aufgebaut. Sowohl die traditionelle Anhängerschaft der Sandinisten, die Kleinbauern und die städtischen Unterschichten, als auch die alte Führungsschicht des Landes standen über viele Jahre hinter Ortega. Die Unternehmerverbände sowie die katholische Kirche stellten sich gut mit dem einstigen Revolutionär. Vor allem die neue sandinistische Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren zu Wohlstand gekommen. Ortega hat den Staatsapparat und die Partei FSLN, der knapp zehn Prozent der Bevölkerung angehören, immer enger miteinander verflochten und deren Kontrolle in den Händen seiner Familie konzentriert. Mittlerweile werden nur noch wenige Medien des Landes nicht unmittelbar von seinen Familienangehörigen oder Vertrauten kontrolliert. 2011 gestattete der mit Sandinisten besetzte Oberste Gerichtshof Ortega die verfassungswidrige Wiederwahl. Seitdem hat er jede Wahl mit über 60 Prozent der Stimmen gewonnen, wobei die Opposition stets Wahlbetrug beklagt hat.

Am 30. April lud der FSLN zu einem »Fest für Frieden und Dialog« nach Managua. Bei der Propagandaveranstaltung für die Partei und ihren Anführer machte dieser seine Ziele klar: »Frieden und Ruhe in unserem Land wiederherzustellen« und »gegen den Feind zu verteidigen«. Murillo hatte bereits Tage zuvor erklärt, wer dieser Feind sei: »winzige Gruppen der Rechten«, die CIA und die Mitglieder des Movimiento de Renovación Sandinista (MRS), sandinistische Dissidenten, die sich 1995 abspalteten und Ortega Autoritarismus und Verrat an der Revolution vor­werfen.

Ortega lud zudem zu einem Runden Tisch ein. Was von der Dialogbereitschaft der Regierung zu halten ist, zeigte sich in den Folgetagen: Regierungs­kritische Demonstrationen wurden von der Polizei aufgelöst, Unterstützungsveranstaltungen für Ortega geschützt.

Der katholischen Kirche wird künftig eine wichtige Vermittlerrolle zukommen. Sie ist die einzige Institution, die von Regierung und Opposition anerkannt wird. Selbst wenn es zu einem fairen Dialog kommen sollte, ist unklar, wer an diesem beteiligt sein soll. Noch ist die Protestbewegung unorganisiert und hat außer der Ablehnung der Herrschaft des Ortega-Clans keine einheitlichen Forderungen artikuliert. Teile der Protestbewegung fordern, Delegierte zu Verhandlungen zu entsenden, allein um die Plätze nicht Strohmännern Ortegas zu überlassen. Für andere Oppositionelle ist jedweder Dialog ausgeschlossen, denn »die Toten verhandeln nicht«.