Nach dem Generationswechsel an der Regierungsspitze fordern viele Menschen in Kuba baldige Reformen

Die Reform nach der Revolution

Am 19. April hat Miguel Díaz-Canel in Kuba den bisherigen Präsidenten Raúl Castro abgelöst. Die alte Garde der »Comandantes« aus der Sierra Maestra macht nach und nach Platz für den Parteinachwuchs. Dieser soll die Errungenschaften der Revolution verteidigen, kämpft aber auch mit der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung.

Die Baustelle von Héctor Ardila Ortiz befindet sich mitten in Havanna gleich neben dem 121 Meter hohen Focsa-Gebäude in Vedado, ganz in der Nähe der Uferpromenade Malecón. »Wir ziehen eine Art Vordach auf, so dass selbst starker Wind dort nichts mehr abdecken kann«, erklärt der 50jährige Handwerker. Den Auftrag hat der selbständige Maurer und Dachdecker von einem Privatmann bekommen, wie so oft hatte jemand ihn und seinen Kollegen weiterempfohlen. Solche Empfehlungen sind für den Handwerker sehr wichtig. Seit gut drei Jahren arbeitet er in Havanna, obwohl seine Familie weiterhin ganz im Südosten der Insel im fast 900 Kilometer entfernten Santiago de Cuba lebt. Ardila Ortiz ist ein palestino (Palästinenser), wie die Arbeitsmigranten aus dem Osten Kubas genannt werden, die nach Havanna gehen, weil sie dort auf besseren Verdienst hoffen.

In Havanna wird derzeit viel gebaut, Vedado ist eines der boomenden Viertel. Ardila Ortiz ist dort auf zwei privaten Baustellen im Einsatz. »Die Löhne in Havanna sind deutlich höher als in Santiago, deshalb bin ich vor allem hier«, sagt der hochgewachsene, drahtige Mann mit einem offenen Lachen. Zehn bis elf Monate schuftet er im Jahr in Havanna, um seine Familie in Santi­ago zu versorgen und zudem ein anderes Geschäft auszubauen. Er und seine Frau haben eine Schweinezucht begonnen, denn für ihn ist eines klar: »Ich weiß ganz genau, dass ich nicht ewig auf dem Bau stehen kann, und so versuche ich, mir eine Alternative mit Zukunft aufzubauen. Kuba befindet sich schließlich im Wandel.«

Bevor er sich mit einem Kollegen selbständig gemacht hat, arbeitete Ardila Ortiz in einer Genossenschaft. Doch in Havanna dürfen die beiden offiziell nicht arbeiten, weshalb sie die staatlichen Inspektoren bestechen, wenn diese auf eine der beiden Baustellen kommen. »Das gehört in Kuba dazu, denn kaum ein Kubaner kommt ohne Nebeneinkünfte über die Runden. Für uns enthalten die Vorschriften für die selbständige Arbeit als Bauarbeiter so manche negative Überraschung«, kritisiert er. Dazu gehört die Vorgabe, dass Baufirmen aus Santiago de Cuba in Havanna keine Aufträge annehmen dürfen. Trabajo por cuenta propia, die Arbeit auf eigene Rechnung, ist seit Oktober 2010 legal und darf in 198 Berufsgruppen beantragt werden, auch als Maurer, Dachdecker oder Bauarbeiter – nur ist man an den Wohnort gebunden. Ardila Ortiz und sein Kollege würden die Steuern gern bezahlen, um legal in der Hauptstadt für die vielen Auftraggeber tätig sein zu dürfen.

Aber das ist derzeit nicht möglich. Neue Lizenzen für die Arbeit auf eigene Rechnung werden seit August 2017 nicht mehr ausgegeben – weil die Vorschriften überarbeitet würden, heißt es von offizieller Seite. Warum das so lange dauert und warum das zuständige Ministerium sich dazu entschieden hat, übergangsweise gar keine neuen Lizenzen, sogenannte patentes, auszugeben, darüber rätseln in Kuba die Betroffenen: angehende Zimmervermieter, die investiert haben, um ihr Haus aus- oder umzubauen, Restaurantbetreiber, die die Öffnung verschieben müssen, Taxifahrer oder eben Handwerker wie Ardila Ortiz.

 

Gespanntes Warten

Ardila Ortiz begrüßt, dass mit der Wahl von Miguel Díaz-Canel und dessen Amtsantritt am 19. April ein Generationswechsel in Kuba eingeleitet wurde: »Für mich ist der Wechsel an der Spitze überfällig und ich hoffe, dass die Neuen entscheidungsfreudiger sind.«

Viele Kubanerinnen und Kubaner sind alles andere als begeistert davon, dass wichtige Reformvorhaben wie die einst von Raúl Castro für spätestens 2015 angekündigte Währungsreform immer wieder aufgeschoben wurden. Das gilt auch für andere Maßnahmen von Castros Reformprogramm, die 2011 vom Parteitag verabschiedeten lineamientos (Leitlinien). Sie wurden schlicht nicht angegangen. Dafür, dass seine Regierung die Währungsreform verschleppt hat, entschuldigte sich Castro anlässlich der Wahl von Díaz-Canel zum neuen Staatsoberhaupt Kubas. Das Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) war bislang der Stellvertreter Raúl Castros. Er stammt nicht wie seine beiden Vorgänger aus der Familie Castro und ist nicht sonderlich charismatisch. Der 58jährige wurde erst nach der kubanischen Revolution geboren.

Es kommt eine Menge Arbeit auf Díaz-Canel zu. Dabei soll ihm der altgediente Raúl Castro zwar zur Seite stehen, doch die Gerüchte, der ehemalige Präsident wolle sich auf einen Altersruhesitz nach Santiago de Cuba zurückziehen, halten sich hartnäckig. Sie haben Nahrung erhalten, als Castro sich nach dem Hurrikan »Irma«, der im September 2017 große Teile der Insel verwüstete, anders als früher nicht in der Öffentlichkeit sehen ließ. Offiziell steht Castro, der im Juni seinen 87. Geburtstag feiern wird, der Kommunistischen Partei noch bis 2021 vor.

Zu Kubas politischem Nachwuchs zählen nicht nur Díaz-Canel, sondern auch zahlreiche Parteisekretäre auf der Ebene der insgesamt 15 Provinzen. Sie stehen vor der Aufgabe, die Errungenschaften der Revolution, darunter die Erfolge im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem, zu verteidigen, aber zugleich die im Grunde seit rund 30 Jahren kriselnde Inselökonomie neu zu ordnen. Ob sie reif für die Übernahme der Macht und die Lösung dieser Aufgaben sind, wird sich zeigen.

Pavel Vidal, ein kubanischer Finanzexperte an der Päpstlichen Universität Javeriana im kolumbianischen Cali, schreibt in einem Beitrag zum Generationswechsel aus ökonomischer Perspektive, Kuba brauche definitiv mehr Wirtschaftswachstum, um attraktivere Arbeitsplätze für den qualifizierten Nachwuchs zu schaffen, die Sozialsysteme aufrechtzuerhalten und das wachsende Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu bekommen. Doch von jenem benötigten Wachstum ist Kubas Wirtschaft noch weit entfernt. 2016 gab es offiziellen Angaben zufolge ein Negativwachstum von 0,9 Prozent, 2017 ein Wachstum von 1,6 Prozent – wobei Finanzexperten wie Vidal Letzteres anzweifeln. Höherqualifizierte verlassen weiterhin Kuba, wenn sich eine Chance bietet.

»Das ist seit Jahren eine der großen Herausforderungen für uns«, kritisiert Estebán Morales. Er ist Ökonom und beschäftigt sich mit den US-amerikanisch-kubanischen Beziehungen. Zwischen 2012 und 2016 verließen im Jahresdurchschnitt rund 50 000 Menschen die Insel – meist in Richtung USA. Seit Januar 2016 genießen kubanische Migranten dort allerdings keinen Sonderstatus mehr. Sie werden nicht mehr als politische Flüchtlinge empfangen, die umstandslos ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten, sondern werden genauso wie andere lateinamerikanische Einwanderer behandelt. Das ließ die Abwanderung etwas zurückgehen.