In Mexiko gibt es neue Hinweise für die Zusammenarbeit von organisierter Kriminalität und Staat

Die Treuen des Gouverneurs

In Mexiko verschwinden rund 14 Menschen pro Tag, nur wenige Fälle werden aufgeklärt. Ermittlungen im Bundesstaat Veracruz könnten nun erhellen, wie organisierte Kriminalität und staatliche Stellen beim »Verschwindenlassen« zusammenarbeiten.

Wo sind Salomón Aceves Gastélum, Daniel Díaz und Marco Avalos? Die Filmstudenten waren gerade auf dem Rückweg von Dreharbeiten, als sie nahe der mexikanischen Großstadt Guadalajara von Bewaffneten verschleppt wurden. Mit Pistolen und Sturmgewehren hätten die Kriminellen sie bedroht, erinnert sich eine Kommilitonin, die die Angreifer verschont hatten. »Als ich den Kopf hob, waren der Transporter und die anderen weg.«

Das war am 19. März. Schnell gingen die Bilder der drei durch die Presse, zahlreiche Freunde verbreiteten Suchmeldungen auf Facebook und selbst der Filmregisseur Guillermo del Toro forderte öffentlich Aufklärung.

Dennoch fehlt von den Filmstudenten bis heute jede Spur. Der Fall erregte Aufmerksamkeit, ebenso wie der von drei Italienern, die seit Ende Januar vermisst werden. Doch das »Verschwindenlassen« von Menschen ist in Mexiko längst zum Alltag geworden, und nur die wenigsten dieser Verbrechen finden annähernd so viel Beachtung.

33 150 Personen gelten nach offiziellen Angaben als vermisst, statistisch betrachtet verschwinden 14 Menschen pro Tag. Bäuerliche Aktivisten und kri­tische Journalistinnen sind ebenso Opfer wie Studentinnen, Migrantinnen, Landarbeiter, Prostituierte und Touristen. Kaum ein Fall wird strafrechtlich verfolgt, deshalb weiß man fast nichts über die Hintergründe der Taten. Die Erklärungen der Strafverfolger, die die meisten der Verbrechen ausschließlich der organisierten Kriminalität zuschreiben, führen genauso wenig weiter wie Deutungsmuster nicht weniger Linker, die das Verschwindenlassen in erster Linie als staatsterroristischen Akt gegen Oppositionelle interpretieren. Außer Zweifel steht jedoch, dass häufig Ordnungskräfte, Behörden und Kriminelle gemeinsame Sache machen.

Eine für mexikanische Verhältnisse ungewöhnliche Ermittlung im Bundesstaat Veracruz bringt etwas Licht ins Dunkel. Anfang Februar erließ dort eine Richterin Haftbefehl gegen 19 führende Beamte und Politiker. Diese sollen innerhalb des Polizeiapparats für zwei Todesschwadronen verantwortlich oder an ihren Aktionen beteiligt gewesen sein, die unter dem Befehl des damaligen Gouverneurs Javier Duarte standen. Überlebende bezeugen, dass die Gruppen systematisch Menschen folterten und in geheimen Gräbern verscharrten, angeblich weil sie der kriminellen ­Organisation Los Zetas angehörten.

»Es ist das erste Mal, dass in Mexiko strafrechtlich sowohl gegen die unmittelbaren Täter als auch gegen hochrangige Befehlshaber vorgegangen wird«, sagt Jorge Winckler, der 2016 als Sonderstaatsanwalt für diese Verbrechen in Veracruz eingesetzt wurde. Allein in diesem Bundesstaat wurden in den vergangenen fünf Jahren etwa 300 Gräber entdeckt und über 3 600 Menschen als vermisst gemeldet. Weil sich Sicherheitsbehörden unwillig oder unfähig zeigen, den Verbleib der Verschwundenen zu klären, machten sich die Angehörigen selbst auf die Suche. So entdeckte das »Colectivo Solecito« 2017 in der Ansiedlung Colinas de Santa Fe in einem Massengrab die Knochen von 276 Menschen. »Ich kann nicht sagen, ob sie die Leute aus Versehen oder aus Boshaftigkeit verschleppt haben«, sagt Aktivistin Basilia Bonastre Contreras. Aber die meisten hätten nichts mit Kriminellen zu tun gehabt.

Ob die Toten von Colinas de Santa Fe auf das Konto der Todesschwadronen gehen, ist noch nicht klar. Staatsanwalt Winckler ermittelt zwar in insgesamt 110 Fällen aus der Regierungszeit Duartes, konzentriert sich aber zunächst auf 15 Personen, die zwischen April und Oktober 2013 verschwanden. Die Anklage zielt auf den damaligen Innenminister von Veracruz, Arturo Bermúdez Zurita. Unter seinem Kommando wurden die beiden paramilitärischen Einheiten aufgebaut, um gegen mutmaß­liche Mitglieder der Zetas vorzugehen. Die »Reaktionskräfte« waren dafür zuständig, Verdächtige aufzuspüren, festzunehmen und durch sexualisierte Gewalt und andere Folterungen Informationen aus ihnen herauszupressen. Dann übergaben sie ihre Opfer an die »Spezialkräfte«, die aus ehemaligen Soldaten bestanden, die auch »die Treuen« genannt wurden.

Diese Einheit brachte die Verhafteten in die Polizeiakademie von Vera­cruz, eine Institution unweit der Landeshauptstadt Xalapa. Dort setzten die »Treuen« die Folter fort: Nackt und ­gefesselt wurden die Verhafteten vergewaltigt, mit Schlägen sowie Elektroschocks gefoltert und nach ihrem Tod in geheimen Gräbern verscharrt. Das belegen der Staatsanwaltschaft vorliegende Nachrichten, die die Folterer an ihre Vorgesetzten schickten, um ihre Erfolge zu melden. Vier Polizisten, die als Kronzeugen aussagen, bestätigen die Angaben, so wie auch Jaqueline Espejo. Sie konnte die Polizeiakademie lebend verlassen, wohl weil bekannt wurde, dass sie selbst Polizistin ist. Beamte hatten sie aus einem Taxi gezerrt und in das Gebäude gebracht. Als man ihr nach Tagen der Folter die ­Kapuze abzog, lagen neben ihr große Mengen Marihuana, die sie im Taxi transportiert haben soll. Das habe sie nicht getan, sagt sie und betont: »Ich habe auch nicht mit den Zetas zusammengearbeitet.«

 

Oft verschwinden Beweise, Richter werden abgesetzt oder Zeugen schweigen aus Angst vor Repressalien.

 

Nichts spricht dafür, dass die Operationen das Ziel hatten, Veracruz vom kriminellen Terror zu befreien. Nicht nur, weil die »Reaktionskräfte« willkürlich gegen Menschen vorgingen, die jung und arm erschienen. Gouverneur Duarte selbst sitzt mittlerweile im ­Gefängnis, weil er in großem Stil Geld hinterzogen hat. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass er eng in die Strukturen der organisierten Kriminalität eingebunden war. »Die Polizei hat nicht die Region von der Drogenmafia ge­reinigt, sondern das dreckige Geschäft des Kartells Nueva Generacion Jalisco erledigt«, zitiert die spanische Zeitung El País einen Ermittler. Das ist nicht auszuschließen, denn diese Gegner der Zetas waren in Veracruz sehr erfolgreich. Dagegen spricht aber eine Untersuchung der Universität Texas. Demnach stand Duarte auf der Gehaltsliste der Zetas. Das erklärten der Studie ­zufolge mehrere ehemalige Bandenmitglieder, die in der texanischen Hauptstadt Austin vor Gericht standen.

Ob die Rolle Duartes geklärt und er juristisch zur Rechenschaft gezogen wird, ist fraglich. Oft verschwinden bei solchen Verfahren Beweise, Richter werden abgesetzt oder Zeugen schweigen aus Angst vor Repressalien. Oder die Behörden lenken Ermittlungen bewusst in eine falsche Richtung, um die Beteiligung hochrangiger staatlicher Stellen zu verschleiern. Das passierte aller Wahrscheinlichkeit nach im Fall der 43 Lehramtsstudenten, die im September 2014 von Polizisten und Kriminellen in der Stadt Iguala verschleppt worden waren. Hier spricht alles dafür, dass auch Bundespolizisten und Soldaten im Auftrag einer Mafiabande agiert haben.

Angesichts dieser Erfahrungen sind Aktivisten mit einer Kampagne zum Bundesstaat Coahuila neue Schritte gegangen. Über 100 Menschenrechts­organisationen haben im Juli 2017 beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einen Bericht eingereicht, der bestätigt, dass Gouverneure dort jahrelang mit den Zetas kooperiert haben. Von willkürlichen Verhaftungen, Folter und gewaltsamem Verschwinden­lassen ist die Rede. »Unsere Untersuchungen«, so die Verfasser, »bestätigen, dass es sich um Verbrechen gegen die Menschheit handelt.« Nun liegt es an den Haager Richtern, der Straflosigkeit in Mexiko ein Ende zu setzen.