Peggy Parnass im Gespräch über das Filmporträt »Überstunden am Leben«

»Gelebt wie verrückt«

Das Gespräch mit Peggy Parnass fand aus Anlass der Premiere des Films »Überstunden am Leben« im März in Parnass’ Wohnung im Hamburger Stadtteil St. Georg statt. Das Filmporträt gibt einen Einblick in ihre Arbeit als Gerichtsreporterin, Schauspielerin und Friedensaktivistin und erzählt die Geschichte ihrer Eltern, die von den Nazis in Treblinka ermordet wurden. 1939 wurden Peggy Parnass und ihr Bruder mit einem Kindertransport nach Schweden geschickt und überlebten so den Holocaust.
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Eine Stelle, die mich im Film beeindruckt hat, ist eine Szene aus einer Talkshow, in der du inmitten von Offizieren und jungen Soldatinnen der Bundeswehr sitzt und für Pazifismus eintrittst.
Das vergesse ich nie! Da hatten sogenannte Feministinnen dafür geworben, dass Frauen Soldatinnen werden können, im Namen der Gleichberechtigung. Und wo immer sie auftraten, um zu erklären, wie nötig die Beteiligung von Frauen an der Bundeswehr für die Gleichberechtigung sei, habe ich erklärt: Ich will auch Gleichberechtigung, aber nicht Frauen rein, sondern Männer raus aus der Armee. Das ist meine Gleichberechtigung. So will ich das haben. Die anderen haben leider gewonnen.
Und da gab es diesen Fernsehabend, mit lauter schicken jungen Mädchen, kleinen Jungs, alle in Uniform, und so fand die Debatte statt. Es freut mich sehr, dass dies im Film mit drin ist, den die beiden gemacht haben, Jürgen Kinter und Gerhard Brockmann.Du bist aber im Film auch zu sehen, wie du dich an einer Demonstration beteiligst, die sich gegen die Beteiligung von Frauen an der Bundeswehr gerichtet hat …
Ja, überhaupt gegen die Bundeswehr. Die Demo habe ich angeführt.

Du hast als Kind zu einer Zeit, als ihr noch als Familie in Deutschland zusammen gelebt habt, die Nazis erlebt?
Ja, da war schon alles klar, es war kein Geheimnis. Ich wusste, dass sie uns umbringen wollten: Nicht Krieg, sondern Mord.

In einem Text beschreibst du, wie ihr als Familie in ein Schwimmbad gegangen seid – ihr konntet nur heimlich reingehen und mit der Angst, erwischt zu werden.
Alles, alles, was wir machten war verboten. Meine süße kleine Mutti, die hat vieles gemacht, weil sie wollte, dass wir auch Spaß haben. Dabei wusste sie, dass es schlimme Folgen haben würde, wenn wir erwischt worden wären. Wir durften gar nichts: nicht ins Kino, nicht in Schwimmbäder, nicht ins Theater. Wir durften nicht auf einer Parkbank sitzen, das war für Juden und Hunde verboten. Wir durften überhaupt nichts.

Da war eine lange Schlange, wir kamen gut durch, haben schön gebadet. Aber als wir drin waren, wussten wir auch: Wir müssen hier ja wieder raus. Und Mutti war als Jüdin zu erkennen mit ihren schwarzen Locken. Ja, mit ihren schönen großen Augen, ihrem schönen Mund, mit vollen Lippen. Da war die Angst, die wahnsinnige Angst. Wir durften auch nicht Eis essen. Da kam immer der Eiswagen: »Eis, Eis«, Klingelingeling. Da haben wir Eis geholt, in einer Waffel, einer Doppelwaffel; unten eine Waffel, dazwischen Eis, drüber auch eine Waffel. Wunderbar, aber das war natürlich auch verboten. Sie hat es trotzdem gemacht, damit wir Eis essen konnten.

Dann kam die Trennung von der Mutter.
Für sie muss das die absolute Hölle gewesen sein. Ihre einzigen Kinder, der vierjährige Junge, der blonde Lockenkopf, und ich. An mir hatte sie keine Freude, ich habe immer gekotzt, nach jeder Mahlzeit. Ich konnte nicht essen und war sehr ernst. Es gibt keine Kinderfotos von mir, auf denen ich lache oder lächele – es gab ja gar nichts zu lachen. Das kam erst später, dann hatte ich eine wilde und fröhliche Zeit, viel später. Da habe ich dann drauflosgelebt wie verrückt, aber erst Jahrzehnte später.

Deine Mutter hat euch dann nach Schweden geschickt?
Sie hat uns in den Zug gesetzt und so getan, als sei das eine Ferienreise, und in einem halben Jahr würde sie nachkommen. Ich wusste, sie kann nicht nachkommen. In Schweden habe ich dann noch etwas versucht. Ich bin zum König gegangen, weil ich dachte, der hat hier das Sagen. Bis zu einem Adjutanten habe ich mich vorgeschrien und vorgeheult. Keiner wollte mir glauben, was in Deutschland los ist, ich habe es denen erzählt: Dass sie meine Eltern retten müssen, weil die sonst umgebracht werden. Schreckliche Phantasien hat das Kind, dachten die. Aber irgend etwas ist durchgedrungen, sie haben sich immerhin an meinen Vormund gewandt. Die dachten erst, der hätte mich geschickt, aber der hatte keine Ahnung.

Später, als ich erwachsen war, haben mich Leute angesprochen: Bist du nicht das Kind, damals mit dem kleinen Bruder zum König gegangen ist? Damals sah es einen Moment so aus, weil das so unerwartet und ungewöhnlich war, dass sie sich tatsächlich einsetzen wollten. Aber dann brach der Krieg aus, das war genau zu dem Zeitpunkt. Da ging gar nichts mehr. Mein Vater war sowieso schon weg, der war ja mit dem Polentransport weggeschickt worden.

 

»Wir durften gar nichts: nicht ins Kino, nicht in Schwimmbäder, nicht ins Theater. Wir durften nicht auf einer Parkbank sitzen, das war für Juden und Hunde verboten.«

 

Nur noch eure Mutter war mit euch in Hamburg?
Ja, und ihre Schwester mit ihrer Familie. Ja. Da lebten die ja alle noch. Pudl, unser Vater, hatte eine riesengroße Familie. Die waren zwölf Kinder. Alle umgebracht. Über 100 Verwandte von mir wurden vergast, erschossen, von den Nazis ermordet. Die Geschwister meines Vaters habe ich gar nicht kennenlernen können, die lebten in Wien. Kamen aus Polen, Tarnopol. Sind nach Wien ausgewandert, vor langer Zeit. Alle umgebracht. Bis auf einen Onkel, der ist nach London ausgewandert, lange vor dem Krieg schon. Bei dem haben wir dann auch zusammen drei Jahre in London gelebt. Gady, mein Bruder, blieb in London. Wir waren staatenlos geboren. Eine einzige Scheiße, so wie für die, die jetzt herkommen, keine Nationalität haben, oder sich nicht ausweisen konnten. Wir waren immer überall illegal, hatten gar keine Rechte, gar nichts. Als Kind nannten wir ihn Bübchen, jetzt heißt er Gady. Gady hat jetzt zwei Nationalitäten, er ist Engländer und Israeli. Und ich habe eine ergaunert, ich bin Schwedin. Dass hat das Leben sehr vereinfacht. Aber vorher war es schwer.

Wann bist du schwedische Staatsbürgerin geworden?
Danach.

Nach dem Ende des Kriegs?
Ja. Lange danach. Aus London bin ich zurück nach Schweden. Da habe ich immer jemanden zum Heiraten gesucht. Einer hat mich angezeigt bei den Behörden, weil ich mich weigerte, mit ihm zu schlafen. Ich sei eine Abenteurerin, die eine Scheinehe eingehen will. Dadurch wurde alles sehr kompliziert. Dann half mir aber ein Kollege. Ich schrieb damals für ein kommunistische Tageszeitung Filmkritiken, Filme waren mir wichtig. Dadurch konnte ich immer gratis ins Kino. Und die Straßenbahnfahrt haben die ersetzt. Ansonsten hatten die kein Geld dafür. Die Zeitung hieß Ny Dag, Neuer Tag. Der Kollege war der Musikkritiker bei der Zeitung und sah, dass nichts klappte: Einer holte seinen Großvater zum Heiraten aus dem Altersheim, aber der starb dann schlagartig, bevor es zu einer Heirat kam. Alles ging schief, da meinte der Kollege: Das kann ich doch machen. Er fand das sehr praktisch, denn er war sehr sexy, sah gut aus, hatte viele Frauen, viele Geliebte. Und dann konnte er immer sagen: Ich würde dich ja so gerne heiraten, aber ich bin schon verheiratet. Eben in der Scheinehe mit mir. Die Abmachung war, dass sobald ich einen Pass hatte, zum ersten Mal, dann käme sofort die Scheidung.

Aber sechs Jahre lang hat er sich geweigert, sich scheiden zu lassen. Das war sehr unbequem, denn damals konnte der Ehemann bestimmen, ob man reisen darf, was man überhaupt darf. Den habe ich zwar nie mehr gesehen, ich war ja weg aus Schweden, aber der hat sich andauernd eingemischt. Das Leben war sehr kompliziert. Jetzt bin ich eine große, blonde Schwedin (lacht).

 

»Als ich nach Deutschland kam, bin ich sofort in die damals bestehende Jüdische Gemeinde und in die IDK, die Internationale der Kriegsdienstverweigerer, eingetreten. Sofort. Und immer Mitglied geblieben.«

 

Dann bist du nach Hamburg gegangen?
Ich bin auf der Durchreise hier hängengeblieben. Ich war in London gewesen, wollte zurück nach Schweden, hatte aber keine Wohnung. Damals musste man sich eintragen in eine Liste, um eine Wohnung in Schweden zu bekommen. Die Wartezeit auf eine freie Wohnung betrug sieben Jahre. Ich hatte überhaupt nichts, war auf dem Rückweg nach Schweden. Auf der Durchreise durch Hamburg wollte ich meine Cousine Urselchen besuchen, die ich elf Jahre nicht gesehen hatte. Die war wie ein Zwilling für mich, als wir klein waren. Ich war nur ein paar Monate älter, wir waren jeden Tag zusammen. Sie hatte einen nichtjüdischen Vater, deshalb war sie nicht umgebracht worden.

Als wir festgenommen wurden, nachdem unser Vater schon weg war in Polen … ach, ich habe keine Lust, darüber zu reden.

Aber nach drei Tagen bin ich dann bei meiner Cousine ins Bett gekrochen, da sagte Urselchen: Du bist nicht da, du bist nicht da; du bist doch tot, du bist doch tot. Du bist nicht da, du kannst nicht da sein. Sie sagte völlig unter Schock: Du bist doch tot. Und Urselchen besuchte ich wieder auf der Durchreise. Sie sagte: Morgen fängt die Uni an – ihr erster Tag an der Uni. Da sagte ich: Ich komme mit, ich will bei dir sein.

Am ersten Tag schon habe ich Leute kennengelernt, natürlich. Die fanden mich sehr ungewöhnlich, denn ich war sehr frei aufgewachsen, und hier waren die noch sehr spießig. Da hatte ich schnell viele Studenten um mich, (Peter) Rühmkorf, (Klaus Rainer) Röhl, (Dick) Busse … Mit ihnen zusammen habe ich dann eine Theatergruppe, eine Studentenbühne gegründet. In die bestehende durfte ich nicht rein, und die anderen auch nicht, wenn sie zu mir hielten. So haben wir ein eigenes Kabarett gegründet, das hieß die »Pestbeule«. Dahinten hängt ein Plakat.

Da über den Fotos von Rosa Luxemburg und Ulrike Meinhof?
Das Plakat hat Röhl mir mal geschickt. Da war ich allerdings schon in Paris, als das rauskam. Da bin ich in Paris hängen geblieben. Aber ich hatte davor eine Wohngemeinschaft mit denen vom Studententheater. Es war eine sehr schöne Zeit, eine hoffnungsfrohe Zeit.

Hattest du zu der Zeit des Studententheaters schon Kontakt zu deiner Tante Flora und deinem Onkel Rudi Neumann?
Nein, da noch nicht. Die waren da noch nicht in Deutschland. Die waren nach der Zeit in den KZ erst fünf Jahre in Belgien, wo sie auch aufgeflogen waren mit ihrer kommunistischen Widerstandsgruppe. Dadurch kamen sie nach Auschwitz und Buchenwald. Sie wurden verpfiffen. Kamen dann wieder nach Brüssel, wo sie ein Kinderheim leiteten. Sie sagten später, dass sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Es war ein Heim für Kinder, die verstreut in den Wäldern lebten, jüdische Kinder. Völlig verwahrlost, völlig kaputt. Fünf Jahre haben sie das Heim geleitet, dann wurde es aufgelöst, die Kinder wurden nach Amerika, nach Palästina geschickt. Sie wussten nicht wohin und kamen nach Hamburg zurück, wo sie ursprünglich mal hergekommen waren. Dann haben wir uns erst kennengelernt. Auf Demos. Wir haben uns auf jeder Demo getroffen. Dadurch waren wir uns sehr nah.

War das in den Zeiten der Ostermärsche?
Weiß ich nicht so genau. Beim Ostermarsch war ich von Anfang an dabei. Ich kann das zeitlich nicht einordnen.