Im britischen Telford wurden Hunderte Mädchen jahrelang sexuell missbraucht

Normalisierter Missbrauch

Wie in anderen britischen Städten wurde nun auch in Telford die jahrzehntelange systematische sexuelle Ausbeutung von jungen Mädchen aufgedeckt. Polizei und Behörden hatten die Fälle lange ignoriert. Gründe dafür könnten die schwierige soziale Lage der Opfer und die vorwiegend pakistanische Herkunft der Täter gewesen sein.

Telford in Shropshire ist eine Stadt mit etwa 150 000 Einwohnern, 30 Kilometer nordwestlich von Birmingham. Geographisch ist Telford Teil der sogenannten Midlands, die, ähnlich wie der Norden Englands, hinter dem wirtschaftlich starken Süden zurückbleiben. War Telford bis in die späten neunziger Jahre von hoher Arbeitslosigkeit geprägt, ist die Stadt durch den Zuzug von IT-Firmen nach der Jahrtausendwende inzwischen wirtschaftlich erfolgreich. Trotzdem liegt das Einkommen von rund 15 Prozent der Haushalte unter der Armutsgrenze und die Obdachlosigkeit ist höher als im Landesdurchschnitt. Die Bevölkerung gilt zu 93,8 Prozent als »weiß«. Eine Minderheit von 3,3 Prozent ist »britisch-asiatischer«, meist pakistanischer Herkunft. Die Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen liegt über dem nationalen Durchschnitt.
Seit einigen Wochen ist bekannt, dass ein Netzwerk von Männern pakistanischer Herkunft in Telford systematisch junge weiße Mädchen sexuell missbraucht und ausgebeutet hat. Die Betroffenen wurden regelmäßig vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Viele nahmen mehrmals die Woche die »Pille danach«, hatten vor ihrem 18. Lebensjahr mehrere Abtreibungen hinter sich oder wurden sehr jung Mutter. Die Anzahl der Betroffenen soll um die 1 000 liegen, schätzen Experten. Polizei und Behörden sehen es nun als ihre »oberste Priorität«, in den Missbrauchsfällen zu ermitteln.
In den vergangenen Jahren wurden ähnliche Netzwerke in anderen Städten aufgedeckt. Nachdem 2012 in Rotherham die jahrelange systematische sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Männer pakistanischer Herkunft ans Licht kam, begannen die Ermittlungen zum Täternetzwerk und Ausmaß des Missbrauchs (Jungle World 7/2015). Im Rahmen der »Operation Chalice« wurden 2012 auch in Telford 200 mutmaßliche Täter strafrechtlich verfolgt, aber letztlich nur sieben für ihre Taten verurteilt. Die Parlamentsabgeordnete der Stadt Telford, Lucy Allan, ruft nun dazu auf, die Vorfälle in Telford erneut systematisch zu untersuchen.
Gerade weil es vorherige Fälle gab, ist unklar, warum es in Telford so lange gedauert hat, bis Behörden und Öffentlichkeit das Problem erkannten. Die derzeitigen Ermittlungen wurden von einem Bericht in der Zeitung Sunday Mirror angestoßen, der mit zahlreichen Dokumenten und Zeugenaussagen den Missbrauch in Telford belegt. Das tatsächliche Ausmaß wird wohl nie bekannt werden, da nur wenige der Betroffenen darüber sprechen, was ihnen widerfahren ist. Der Bericht des Sunday Mirror zeigt allerdings deutlich, dass der Missbrauch systematisch ignoriert wurde und die missbrauchten Mädchen als Problem, nicht als Opfer, gesehen wurden.
Im Nachhinein scheint es schwer vorstellbar, dass der Zusammenhang zwischen den Vorfällen den lokalen Behörden nicht aufgefallen sein soll. Bereits seit den frühen achtziger Jahren gab es Missbrauchsfälle von Mädchen, die meist aus ärmeren und weniger stabilen Familienverhältnissen stammten. Die Täter waren vorwiegend Männer pakistanischer Herkunft. 1996 soll eine Bürgerin der Stadt der Polizei erzählt haben, einer der Täter verkaufe Sex mit Mädchen. Dokumente zeigen, dass das Problem bereits in den späten neunziger Jahren unter Sozialarbeitern bekannt war. Diese schritten jedoch nicht ein.
In Telford führte der systematische Missbrauch sogar zu Todesfällen. Im Jahr 2000 etwa starben die 16jährige Lucy Lowe, ihre Mutter und ihre Schwester bei einem Hausbrand. Den Brand gelegt hatte der Vater von Lucys zweijährigem Kind, Azhar Ali Mehmood. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Lucy zum zweiten Mal schwanger. Mehmood, damals 26, hatte eine Beziehung mit Lucy, seit sie zwölf war. Lucys Vater wandte sich vor ihrem Tod an die Behörden, da sie die Schule schwänzte und er über den Altersunterschied zwischen ihr und ihrem Freund besorgt war. Doch niemand sah einen Grund, einzuschreiten, da es sich beim Verhältnis der beiden um eine »Beziehung« handelte.
Der Tod zweier weiterer Mädchen wird erst jetzt in einen Zusammenhang mit dem Missbrauch gebracht. Die 13jährige Becky Watson starb 2002 bei einem Autounfall, der damals von der Polizei als »Streich« bezeichnet wurde. Tagebucheinträge zeigen, dass sie seit ihrem elften Lebensjahr von Männern pakistanischer Herkunft missbraucht worden war. Ihre Mutter wandte sich deswegen an die Polizei und gab dieser sogar eine Liste von Verdächtigen. Die Polizei ignorierte aber die Aussagen von Beckys Mutter. Beckys Freundin Vicky Round wurde von den gleichen Männern ausgebeutet. Diese gaben der damals zwölfjährigen Heroin, was zu einer anhaltenden Abhängigkeit führte. Vicky starb 2009 an den Folgen ihres Drogenkonsums.
Einer der Gründe für die Tatenlosigkeit der Behörden war wohl die Sorge der Polizei, als rassistisch angesehen zu werden, wenn sie gezielt Ermittlungen über eine Gruppe von Männern pakistanischer Herkunft einleitet, oder dass die Berichterstattung zu »Islamophobie« führen könne. So gab etwa Darren Osborne, der 2017 mit seinem Lieferwagen in eine Menschenmenge vor der Moschee in Finsbury Park fuhr, an, dass ihn ein Dokumentarfilm über den Fall Rochdale zu seiner Tat motiviert habe.
Ein weiterer Grund scheint zu sein, dass Behörden das Verhalten der Mädchen als freiwillig betrachteten, trotz der extremen Altersunterschiede zwischen ihnen und ihren »Freunden« und der Minderjährigkeit der Opfer. Einige Tagebucheinträge der Mädchen zeigen, dass sie sich zwar von den Tätern bedroht fühlten, sich selbst aber nicht als Opfer von sexueller Ausbeutung betrachteten. Becky Watson etwa schämte sich, dass ihr Freund sie dazu zwang, mit anderen Männern zu schlafen. Trotzdem war Sex mit erwachsenen Männern anscheinend etwas völlig Normales für die minderjährigen Mädchen.
Einige der Betroffenen wurden von den Tätern eingeschüchtert und so von einer Zusammenarbeit mit der Polizei abgehalten; sie berichteten Medien gegenüber von Textnachrichten und nächtlichen Hausbesuchen, bei denen ihnen gedroht wurde, dass ihnen oder ihren Familien etwas angetan werde, sollten sie jemandem vom Missbrauch erzählen. Anderen Betroffenen ist wahrscheinlich nicht einmal bewusst, dass sie Opfer von Missbrauch sind. Diesen zu verhindern, bedeutet nicht nur, die Betroffenen ernst zu nehmen und Täter strafrechtlich zu verfolgen. Es bedeutet auch, Mädchen und Frauen darüber aufzuklären, welche Beziehungen und Handlungen einen Missbrauch darstellen und welche nicht.