50 Jahre nach dem Attentat – was bleibt von Rudi Dutschke?

Dutschke und das Attentat

Ostern vor 50 Jahren verübte ein Rechtsextremer ein Attentat auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Studentenbewegung. Eine Spurensuche an den Originalschauplätzen des alten Westberlin.

Der Kurfürstendamm ist eine der bekanntesten Straßen Berlins. Sie zieht sich vom Herzen der sogenannten City West in Charlottenburg über Wilmersdorf bis nach Halensee. An ihrem östlichen Ende steht am Breitscheidplatz der Turm der Gedächtniskirche, der seit der britischen Bombardierung im Zweiten Weltkrieg eine Ruine ist. Das Ende der Straße im Westen markiert der Rathenauplatz, auf dem sich seit der 750-Jahr-Feier Berlins im Jahr 1987 die seinerzeit umstrittene Skulptur »Zwei Beton-Cadillacs in Form der nackten Maja« befindet. Auf dem Kurfürstendamm flanieren gutbetuchte Touristen an Juwelieren, Boutiquen und Cafés entlang und erfreuen sich an den prachtvollen Gebäuden. Den breiten Boulevard haben sie dem ersten deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck zu verdanken. Der wollte eine repräsentative Prachtstraße in der Hauptstadt des von Preußen vereinten Deutschen Reichs, die es mit dem Boulevard des französischen »Erbfeinds«, den Champs-Élysées in Paris, aufnehmen sollte. Für das Vorhaben wurde der Kurfürstendamm auserkoren, der ursprünglich als Reitweg für den Kurfürsten ­Joachim II. angelegt worden war. In der Alltagssprache der Berliner ­er­fahren die namensgebenden Kurfürsten ­heutzutage kaum noch ­Würdigung, meist nennt man die Straße schlicht »Ku’damm«.

So hielt es auch Rudi Dutschke, der wichtigste Wortführer der Studentenbewegung der sechziger Jahre in Westberlin. Und Dutschke musste oft Ku’damm sagen. In der Teilstadt Westberlin gab es wenige Straßen, die so zentral gelegen waren wie der Kurfürstendamm. Für die außerparlamentarische Opposition (APO) war der Ku’damm neben dem Campus der Freien Universität in Dahlem der wichtigste Schauplatz. Das Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) hatte die Anschrift Kurfürstendamm 140. Viele Demonstrationen fanden auf dem Boulevard statt: mal gegen den Krieg in Vietnam, mal gegen das Mili­tärregime in Griechenland. Am 11. April 1968 radelte Dutschke mal wieder zum Kurfürstendamm. Neben dem Büro des SDS war eine Apotheke und Dutschkes Sohn Hosea-Che brauchte Nasentropfen. Es hätte auch Apotheken in der Nähe der Wohnung des Theologen ­Helmut Gollwitzer in Dahlem gegeben, in der Rudi und Gretchen Dutschke mit ihrem Sohn zu der Zeit lebten. Aber Dutschke musste ohnehin noch Papiere aus dem SDS-Büro holen, also wählte er die Apotheke am Kurfürstendamm.

Das SDS-Büro ist längst weg, an seiner Stelle steht ein Supermarkt. Eine Apotheke gibt es hier noch immer, vor der Tür fährt der Metrobus. An diesem kalten Wintertag kauert ein Obdach­loser an der Bushaltestelle, in der Hand hält er einen Pappbecher. So weit im Westen der Straße gibt es aber kaum noch Touristen, die beim Anblick dieses Elends ihr Gewissen beruhigen wollen. Niemand scheint den Obdachlosen auch nur wahrzunehmen. Ein paar Meter neben ihm ist an der Straße eine Platte in den Boden eingelassen, um sie herum stehen Fahrräder und ein Motorrad. Auf der schmutzigen Tafel steht: ­»Attentat auf Rudi Dutschke. 11. April 1968. An den Spätfolgen der Schuss­verletzung starb Dutschke 1979. Die Studentenbewegung verlor eine ihrer herausragendsten Persönlichkeiten.«

 

In den siebziger Jahren beklagte Rudi Dutschke, dass die Linke die »nationale Frage« vernachlässige.

 

Viel erfährt man nicht über Dutschke, das Attentat oder den Täter. Auch auf der Website des Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf findet man lediglich ein Foto der Tafel, auf dem wegge­worfene Zigarettenstummel zu sehen sind. Ansonsten reicht es dort gerade so eben für die Information, dass die Tafel 1990 enthüllt wurde. Dass dort, wo die Tafel in den Boden eingelassen wurde, das Attentat stattfand und ­genau an der Stelle Dutschkes Fahrrad lag, nachdem ein Rechtsextremer den SDS-Wortführer mit drei Pistolenschüssen niedergestreckt hatte, erfährt man nicht. Rechtzeitig zum 50. Jahrestag des Attentats hat die Gedenktafelkommission der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf nachgebessert. Weil die Tafel im Boden schwer zu erkennen sei, habe man eine weitere Tafel an der Bushaltestelle installiert, die auf die Boden­platte aufmerksam mache und die damaligen Ereignisse wesentlich ausführlicher erläutere, meldete die Kommission im September.
Dutschke saß auf seinem Fahrrad und wartete. Irgendwann bemerkte er ­einen Mann, der sich auf ihn zubewegte. Josef Bachmann hieß der Mann. Als Bachmann Dutschke erreichte, fragte er ihn: »Sind Sie Rudi Dutschke?« Dutschke bejahte, Bachmann schoss, drei Mal.

Dutschke kam ins Krankenhaus – und überlebte, obwohl er einen Teil seines Gehirns verloren hatte. Über Monate musste er sich Sprache und Gedächtnis neu aneignen. Noch kurz vor dem Attentat hatte er in einem Interview gesagt: »Normalerweise fahre ich nicht ­allein rum. Es kann natürlich ­irgend ein Neurotiker oder Wahnsinniger mal ’ne Kurzschlusshandlung durchführen.«
Bachmanns Attentat war keine solche Kurzschlusshandlung. Bei dem Mordanschlag hatte Bachmann Seiten der rechtsextremen Deutschen National-Zeitung bei sich, darunter eine mit der Titelzeile »Stoppt den roten Rudi jetzt«. In seiner Wohnung wurde ein selbstgemaltes Porträt von Adolf Hitler gefunden. Soviel war schon kurz nach dem Attentat bekannt. Bachmann wurde als rechtsextremer Einzeltäter gesehen. Erst 2009 wurde durch Unterlagen der Stasi und der Westberliner Polizei bekannt, dass Bachmann über Jahre mit Nazis in Peine befreundet gewesen war. Von ihnen hatte er die Waffe gekauft, an ihren Schießübungen hatte er teilgenommen. Auch über einen möglichen Anschlag auf den damaligen DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht hatten die Männer miteinander ­gesprochen.

Der SDS machte den Axel-Springer-Konzern für Bachmanns Attentat ­verantwortlich. Über Monate hatte man im Springer-Hochhaus gegen die ­Bewegung angeschrieben, nur wenige Tage vor dem Attentat hieß es etwa, man solle die »Rädelsführer« ergreifen. Noch am Abend des Anschlags zogen viele Mitglieder der Studentenbewegung in die Kochstraße vor das Ver­lagsgebäude. Die Situation eskalierte. Bei dem Versuch, die Auslieferung von Bild und B.Z. zu verhindern, wurden zwei Demonstranten überfahren. Ein Mitarbeiter des Berliner Verfassungsschutzes verteilte Molotow-Cocktails, einige Demonstranten griffen gerne zu. Insgesamt brannten 15 Lieferwagen des Verlags.

 

 

 

Dutschke – der Name zieht noch ­immer, wenn auch eher die älteren ­Semester. Im Januar 2018 lud Rudi Dutschkes Witwe Gretchen in einen Club in Berlin-Kreuzberg zu einer ­Lesung. Der Altersdurchschnitt im Raum ließ sich an der hohen Anzahl an Digitalkameras ablesen, Smartphones scheinen bei Vertretern dieser Jahr­gänge noch nicht sehr verbreitet zu sein. Gretchen Dutschke hat ein neues Buch im Gepäck: »1968. Worauf wir stolz sein dürfen«. Die Lesung wird immer wieder von einer Band unter­brochen, die Bewegungsklassiker wie »Sag mir, wo du stehst« und »Roter Wedding« spielt. Irgendwann gibt Gretchen Dutschke die Antwort auf die in ihrem Buchtitel gestellte Frage: Im linken Lager sei es wegen der national­sozialistischen Vergangenheit tabu, stolz auf Deutschland zu sein. Doch andersrum werde ein Schuh draus: »Gerade weil in den letzten 50 Jahren über Hitler, den Holocaust und die Deutschen so erbittert und ausdauernd diskutiert wurde, konnten diese Schrecken der Vergangenheit zum Ausgangspunkt einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft werden. Eine Leistung, an der die 68er großen Anteil haben. Und darauf darf man selbst­redend stolz sein.«

Damit schreibt Gretchen Dutschke fort, was ihr Mann Rudi schon in den siebziger Jahren dachte. Nachdem er sich von dem Attentat erholt hatte, ­beklagte er in einer Artikelserie, dass die westdeutsche Linke die »nationale Frage« vernachlässige. Im Deutschen ­Allgemeinen Sonntagsblatt schrieb Dutschke 1977: »Unter solchen Bedingungen fängt der linke Deutsche an, sich mit allem möglichen zu identifizieren, aber einen Grundzug des kommunistischen Manifestes zu ignorieren: Der Klassenkampf ist international, in seiner Form aber national.«

Frühere Mitstreiter Dutschkes in der APO wie Bernd Rabehl, Horst Mahler oder Reinhold Oberlercher sind mittlerweile seit Jahren in neonazistischen Kreisen aktiv. Ob Dutschke am Ende einen ähnlichen Weg eingeschlagen ­hätte oder der »Genscher der Grünen«  geworden wäre, muss Spekulation bleiben. 1979 starb er an den Spätfolgen des Attentats, heute wäre er 78 Jahre alt.

Nach der Lesung signierte Gretchen Dutschke einige Bücher, der Verkauf lief gut. Der Jungle World sagte sie, die Schauplätze von 1968 hätten für sie nur noch historische Bedeutung. Aus dem Kurfürstendamm mache sie sich sonst nichts. Sie wohne in einem ­Frauenwohnprojekt in Friedrichshain, im ehemaligen Ostteil der Stadt. Am Ende stand sie mit einem Alt-Hippie neben der Bühne und plauderte. Der Hippie will eine neue APO gründen. Gretchen Dutschke fand die Idee gut, wirkte aber erschöpft. Der Abend in Kreuzberg war lang.

Besuch am Springer-Hochhaus, ein halbes Jahrhundert nach dem Attentat. Mittlerweile heißt die Kochstraße an dieser Stelle anders: Rudi-Dutschke-Straße. Die Tageszeitung Taz, im ­weitesten Sinne eine publizistische Nachfolgerin von Studentenbewegung und APO, hatte die Umbenennung ­vorgeschlagen, der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg den Vorschlag auf­gegriffen. Die CDU war schwer empört und der Springer-Konzern klagte da­gegen. Doch kurz nach dem 40. Jahrestag des Attentats wurde das neue ­Straßenschild angebracht. Seither kreuzen sich Rudi-Dutschke- und Axel-Springer-Straße an der Ecke des Springer-Hochhauses. Eine Kreuzung von hohem symbolischen Wert – nicht nur, weil die Rudi-Dutschke-Straße Vorfahrt hat. Vor dem Gebäude stehen Büsten von Helmut Kohl, George Bush ­senior und Michail Gorbatschow, um sie für ihre Verdienste um die deutsche Wiedervereinigung zu ehren. Dutschke passt da auf seine Art gut dazu. Zeit seines Lebens lehnte er die Teilung Deutschlands ab. Schon 1961 versuchte er eigenhändig, ein Teilstück der Ber­liner Mauer einzureißen.