Der afghanische Präsident Ashraf Ghani will mit den Taliban verhandeln

Ein Angebot für die Taliban

Die Terroranschläge der vergangenen Monate trafen in Afghanistan vor allem die Hauptstadt Kabul, doch auch in vielen anderen Provinzen hält der Krieg weiter an. Nun hat Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Verhandlungsangebot unterbreitet.

Seit einem Monat wird in einigen Distrikten der nördlichen afghanischen Provinz Jowzjan gekämpft. Beteiligt sind der afghanische Ableger der Terror­organisation »Islamischer Staat« (IS), der »Islamische Staat in der Provinz Khorasan« (ISKP), die Taliban und die paramilitärische Hilfspolizeitruppe Afghan Local Police (ALP).

Dabei stehen sich nach Recherchen des Afghanistan Analysts Network (AAN) allerdings nicht nur radikale Islamisten und Regierungskräfte gegenüber. Vielmehr bekriegen sich die Jihadisten untereinander. Ein ehemaliger Taliban-Kommandant, der 2015 zum ISKP übergelaufen sein soll, wurde in einer Offensive Ende Januar von seinen ehemaligen Waffenbrüdern bedrängt. Nachdem die ISKP-Gruppe den Angriff der Taliban abgewehrt hatte, ging sie selbst in die Offensive. Dabei attackierte sie jedoch nicht die Taliban, sondern zwei Checkpoints der ALP. Diese konnte den Angriff zwar abwehren, doch nach Informationen des AAN kontrollierte die ­Regierung in der Provinz nur noch die urbanen Distriktzentren.

Dieses Beispiel aus dem Norden Afghanistans verdeutlicht, wie verworren und unbeständig die Allianzen im afghanischen Krieg sind. Konstant bleibt einzig das Leid der Zivilbevölkerung. Über 5 000 Familien sind nach Angaben einer Abgeordneten aus Jowzjan bereits vor den Kämpfen und der Herrschaft des ISKP geflohen. Insgesamt ist die Zahl der verletzten und getöteten Zivilisten im Jahr 2017 zwar leicht gesunken, sie lag nach Angaben der UN Assistance Mission in Afghanistan (Unama) aber dennoch über 10 000. Die vergangenen vier Jahre waren die blutigsten seit Beginn der Erfassung der Opferzahlen durch die Unama im Jahr 2009. Die Opferzahlen von Selbstmordanschlägen erreichten 2017 deren Angaben zufolge sogar einen neuen Höchstwert, 605 Zivilisten seien getötet und 1 690 weitere verletzt worden.

Die Angriffsserie, die Ende 2017 vor allem die Hauptstadt Kabul traf, setzte sich dieses Jahr fort. Am Freitag voriger Woche tötete ein Selbstmordattentäter mindestens neun Menschen im Westen Kabuls. Der IS bekannte sich zu dem Anschlag, der offenbar einer Versammlung von Schiiten galt. Allein im Januar wurden in Kabul mehr als 170 Personen durch Bombenanschläge getötet. Weltweite Aufmerksamkeit erlangte der Angriff mit Dutzenden Totten auf das Hotel Inter-Continental Kabul am 20. Januar, in dem zu der Zeit eine Konferenz des Telekommunikationsministeriums stattfand.

Hinsichtlich der Verantwortung für die diversen Anschläge scheinen der ISKP und die Taliban ebenfalls in Konkurrenz zueinander zu stehen. Manche Anschläge werden von beiden Gruppen reklamiert. Die Verantwortung für andere, meist die mit besonders vielen zivilen Opfern, übernehmen die Taliban hingegen nicht. Anfang März hatte ein Selbstmordattentat einen australischen Militärkonvoi zum Ziel, verletzt wurden dabei 15 Zivilisten, mehrere Menschen starben.

Es scheint sich ein Trend abzuzeichnen. Da die Geländegewinne der Taliban aufgrund der Intensivierung der mili­tärischen Aktivitäten der USA ins Stocken geraten sind und prestigeträch­tige Erfolge – wie etwa die zeitweilige Einnahme der Großstadt Kunduz 2015 – seit einiger Zeit ausbleiben, konzentrieren sich die Jihadisten auf öffentlichkeitswirksame Anschläge in der Hauptstadt. Die Attentate als ein letztes Aufbäumen der Taliban zu interpretieren, wäre jedoch verkehrt. Nach Angaben der Los Angeles Times sind noch immer 44 Prozent aller Dis­trikte Afghanistans umkämpft oder unter Kontrolle der Taliban.

Während in großen Teilen des Landes die afghanische Armee um territoriale Kontrolle ringt, taumelt die Regierung der Nationalen Einheit von Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah von einer Krise in die nächste. Abdullah ist seit September 2014 »Generaldirektor« Afghanistans, ein Posten, der nach dem Streit um Manipulationen bei den Präsidentschaftswahlen 2014, bei denen Abdullah gegen Ghani angetreten war, neu geschaffen wurde, um den nominellen Verlierer abzufinden. Derzeit probt der einflussreiche Gouverneur der Provinz Bakh, Atta Mohammed Noor, den Aufstand gegen die Zentralregierung in Kabul. Präsident Ghani hatte Noor im Dezember 2017 abgesetzt. Doch der im Norden Afghanistans populäre Gouverneur weigert sich, seinen Posten zu räumen, und hat darüber hinaus erneut bekräftigt, bei der Wahl 2019 für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Wie wenig Einfluss die afghanische Regierung in diesem Machtkampf geltend machen kann, zeigt sich an Noors offiziellem Nachfolger als Provinzgouverneur, Mohammed Daoud. Dieser muss von Kabul aus arbeiten, da Noor die Kontrolle in der Provinzhauptstadt Mazar-i-Sharif behält.

Seit mehrere Jahren schwelt derweil ein Konflikt um den neuen elektronischen Personalausweis, die sogenannte E-Tazkira. Im Zentrum steht die Frage, ob neben der Nationalität auch eine ethnische Zugehörigkeit erfasst werden soll. Aber auch der Begriff der afghanischen Nationalität selbst ist nicht unumstritten. In den Augen mancher Afghanen bedeutet »Afghanistan« soviel wie »Land der Paschtunen«.

 

Ghani versprach den Taliban im Falle einer Beendigung der Kämpfe eine Anerkennung als politische Partei, eine Integration in die afghanische Gesellschaft sowie eine Amnestie für inhaftierte Kämpfer.

 

Radikale Vertreter ethnischer Minderheiten im paschtunisch dominierten Afghanistan lehnen daher die Bezeichnung der eigenen Nationalität als »afghanisch« ab. In der jetzigen Diskussion werden immer wieder ethnonationalistische Töne laut, die die Gefahr bergen, politische Debatten dauerhaft zu ethnisieren.
Diese beiden Probleme der afghanischen Innenpolitik illustrieren die ­diversen Konflikte, die einander überlappen. Machtkämpfe zwischen den zentralistischen Ansprüchen der Regierung in Kabul und lokalen Machthabern finden ebenso statt wie militärische Auseinandersetzungen zwischen Islamisten untereinander oder mit Regierungskräften. Gruppen wie der ISKP schüren durch Anschläge auf schiitische Einrichtungen konfessionelle Spannungen und diverse Politiker wissen Gefolgschaft für die eigene Sache durch Appelle an eine gemeinsame ethnische Identität zu sichern.

In dieser unübersichtlichen Situation hat nun Präsiden Ghani den Taliban Verhandlungen angeboten. Bei der zweiten Auflage des »Kabul Process« richtete sich Ghani mit einem direkten Angebot an die Islamisten. Er versprach den Taliban im Falle einer Beendigung der Kämpfe eine Anerkennung als po­litische Partei, eine Integration in die afghanische Gesellschaft sowie eine Amnestie für inhaftierte Kämpfer. Damit sorgte der Präsident bei vielen Beobachtern für eine vage Hoffnung auf ein Ende der Gewalt. Denn ein so weitreichender Vorschlag für Friedensverhandlungen wurde seit Jahren nicht mehr unterbreitet. Die Taliban reagierten zurückhaltend. Bisher lehnen sie jede direkte Verhandlung mit der Regierung Ghani ab, da sie diese als »Marionette der USA« sehen.

Viele Afghanen haben berechtigte Zweifel an einem Zustandekommen von Verhandlungen mit den Islamisten. Einer aktuellen Online-Umfrage des größten afghanischen Nachrichtensenders Tolo News zufolge glauben lediglich 26 Prozent der Befragten, dass mit den Taliban ein Frieden zu machen sei. Die ersten Wochen nach dem Angebot Ghanis bestätigen diesen Pessimismus. Zu Beginn der Woche griffen die Taliban mit über 300 Kämpfern ein Distriktzentrum in der westlichen Provinz Farah an und töteten zahlreiche afghanische Polizisten.

Die USA setzen ihre militärischen Operationen ebenfalls fort. In der Provinz Kunar sollen bei einem Drohnenangriff kürzlich 27 Taliban in einer Koranschule getötet worden sein.  Die zarten Hoffnungen auf ein

Ende der Gewalt scheinen ebenso schnell zu vergehen, wie sie aufgekommen sind.
Unklar ist darüber hinaus, ob die Taliban die Bedingungen für einen Friedensprozess akzeptieren – so zum Beispiel die Integration von Frauen in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen sowie die Anerkennung grundlegender Menschenrechte. Dies würde eine grundsätzliche Revi­sion ihres Gesellschaftsentwurfs bedeuten, wie sie ihn während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 zu etablieren versuchten. Eine umfangreiche Ana­lyse der Taliban-Bewegung, die im vergangenen Jahr vom »Afghanistan Analysts Network« (AAN) veröffentlicht wurde, lässt daran zweifeln. Zwar distanzieren sich die Taliban inzwischen von drakonischen Praktiken der Vergangenheit und zeigen sich bei Themen wie der Bildung von Mädchen und Frauen offener als noch vor einigen Jahren. Allerdings attestiert die AAN-Ana­lyse den Taliban eine Entwicklung in Richtung eines »moderneren« Islamismus, wie er bei so unterschiedlichen Gruppen wie den Muslimbrüdern und al-Qaida zu finden sei. Seien die Taliban in ihrer Herrschaftszeit noch stärker an lokalen Werte- und Normvorstellungen in den ländlichen Gebieten Südafghanistans ausgerichtet gewesen, habe sich inzwischen eine Orientierung an global verbreiteten islamistischen Ideologien durchgesetzt.

Darin haben individuelle Rechte von Frauen oder Homosexuellen bekanntermaßen wenig Platz. Berichten aus von den Taliban kontrollierten Gebieten zufolge gehören Strafen wie Steinigungen und Auspeitschungen weiterhin zum Repertoire der Gruppe. Ideologisch stehen die Taliban in Afghanistan allerdings keineswegs allein; reaktionäre Ansichten vertreten  viele Gruppen, auch solche, die der Regierung nahestehen.

Der Blick nach Afghanistan stimmt somit wenig zuversichtlich. Die Bundesregierung hält dennoch an ihren Sammelabschiebungen fest. Ende Februar startete die vorläufig letzte Maschine von München in Richtung Kabul. Weitere Flüge sind geplant.