Der Soziologe Heinz Bude im Gespräch über die Gegenwart einer Revolte, die vor einem halben Jahrhundert die Welt erschütterte

»1968 war eine globale Explosion der politischen Leidenschaften«

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Interview Von

Im Radio hörte man nicht nur populäre Musik, sondern auch ­Theorie. Adorno hielt oft Rundfunkvorträge und Gisela von Wysocki hat in ihrem Buch »Wiesengrund« sehr anschaulich ­beschrieben, welche ungeheure Faszination von der Stimme ­Adornos ausging, die Solidarität in der Trostlosigkeit versprach. Wie kamen die Ruinenkinder zu Adorno?
Über die von Adornos Vorträgen und auch Schriften ausgehende Faszi­nation berichten viele der Zeitgenossen, mit denen ich gesprochen habe. Das war ein kollektives Mitschwingen. Bei Adorno war es wie in der Oper: Man verstand nichts, konnte aber alles mitsingen. Adorno war für die Kriegskinder der Führer durch die Hölle – wie in Dantes »Göttlicher ­Komödie«. Adorno spricht aus, wie beschädigt alles ist, und verspricht zugleich, dass es nur mit dem Aussprechen dieses Befunds überhaupt weitergehen kann. Die Unterbrechung ist die einzige Form des Weitermachens. Das ist die Botschaft von Adorno, der in seiner Philosophie versucht, seine eigene Überlebensschuld als jemand, der der Shoah ent­ronnen ist und nach Frankfurt zurückkehrt, zu bannen.

Wie kommt es, dass diese junge Generation ins Gespräch kommt mit einem wie Adorno, der zurückgekehrt ist und im Grunde aus einer anderen Welt stammt, dem die Trauer über den Tod des bürgerlichen Individuums biographisch und zeitgeschichtlich sehr viel näher lag als den Ruinenkindern? Handelte es sich um ein produktives Missverständnis zwischen den Generationen?
Das war eine eigenartige Situation. Manches von Adorno klang auch eher wie aus der Jugendbewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich gegen die Kälte der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft empörte. Die Botschaft von Adorno war aber eine doppelte. Zum einen die Aufforderung zum Bruch mit der Welt der Mörder und Verlierer und zum anderen der Zuspruch zu einem eigenen und richtigen Leben. Adorno präsentierte eine Kategorie, welche die Phantomisierung des Lebens benannte und zugleich die Überwindung von Ausbeutung und Entfremdung versprach. Das war die Kategorie der Gesellschaft. Gesellschaft ist der Verblendungszusammenhang, der einen aller Lebensmöglichkeiten beraubt, und zugleich ist es auch der Ort der Emanzipation und Befreiung. Diese nega­tive Dialektik bei Adorno haben die Achtundsechziger erspürt. Der Schwermut dieser Theorie war die einzige Rettung. Aus der Theorie ­sollte auch eine Praxis erwachsen. Wie diese aussehen sollte, wusste man aber nicht. Das Problem hat Hans-Jürgen Krahl in seinem Klassiker »Konstitution und Klassenkampf« zu fassen versucht: dass Emanzipation der Prozess der Praxis selbst sei.

Über Adorno heißt es in Ihrem Buch an einer Stelle, er sei »ein Virtuose des Begreifens, kein Opfer der Verhältnisse« gewesen. Von der Erklärungskraft der Theorie ging eine starke Faszination aus, die Ende der siebziger Jahre schon wieder erloschen war. Wie erklären Sie sich das?
Wenn die These stimmt, dass die Generation der Achtundsechziger weltweit mit dem Gefühl aufwuchs, dass es sich bei ihrer Welt um eine Scheinwelt handelt, dann brauchte sie eine Vorstellung, dass es doch eine verborgene oder verschüttete Wahrheit gibt. Der Theorieglaube von ’68 ist auch ein Glaube an die Schrift und das Wort. Das ist paradox, denn zunächst dachte man, der Krieg hätte genau das alles hinweggefegt, die Verbindlichkeit des Geschriebenen und Gesagten. Doch die junge Generation versucht, der Schrift, dem Wort, der Theorie ein Geheimnis über ihr Leben zu entlocken. Lesen und zuhören war eine Praxis der Wahrheit. Noch der 1930 in einem Vorort von Algier geborene Jaques Derrida zehrt davon, wenn er sich auf die ­Suche nach der Differenz macht, die die Differenz der Schrift ermöglicht. Doch von diesem Glauben an die Theorie trennt uns heute ein ­Abgrund.

Die Achtundsechziger waren, wie Jean-Luc Godard es ausdrückte, die Kinder von Karl Marx und Coca Cola, neben der Theorie gab es den Pop. Wie war das Verhältnis zueinander?
Eine Gesprächspartnerin von mir brachte es auf die wunderbar ein­fache Formel, dass Pop die Sehnsucht nach Welt gewesen sei. Das war ein globales Phänomen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine ungeheure Sehnsucht, die Fenster zu öffnen und durch Türen zu gehen. Das hatte ein unmittelbar sinnliche Komponente: Sehen, Hören, Bewegen, Tanzen. Im Theorieglaube steckte diese Sehnsucht nach Welt, die der Pop verkörperte.

 

Heinz Bude, "Adorno für Ruinenkinder"

Der Soziologe Heinz Bude

Bild:
Dawin Meckel

 

An einer Stelle in Ihrem Buch heißt es, dass ’68 »nicht Weltveränderung, sondern Selbstveränderung« bedeute, »Politik der ersten ­Person« ist ein Schlagwort der Zeit. Wurde somit Weltveränderung durch eine individuelle Geste, eine Pose ersetzt? Adorno attestierte den Achtundsechzigern ­einen Hang zur Pseudoaktivität.
»Politik der ersten Person« ist richtig, wenn man es richtig versteht. Es meint, das persönliche Befinden als Indikator für den Zustand der Gesellschaft zu verstehen. Das Ganze ist im Einzelnen auffindbar. Was man zunächst festhalten muss: Das Ich von ’68 und das Ich von heute unterscheiden sich. Aber das ist nur möglich, wenn man sein Ich zur Dispo­sition stellt. Das Ich von ’68 wollte sich überschreiten, das Ich von heute will sich sichern. Wenn man die Unterschiede nicht berücksichtigt und nur auf das reine Ich blickt, verfehlt man das Entscheidende. Ich sage das, um mich gegen die These von Luc Boltanski und Ève Chiapello zu wenden, die behaupten, dass ’68 die Umstellung von Sozialkritik auf Künstlerkritik mit sich gebracht und somit dem Neoliberalismus Bahn gebrochen habe. Das ist zwar insoweit richtig, als dass ’68 im Zeichen des Pop den Durchbruch zum Konsum brachte – wie bei den proletarischen Jugendlichen mit den knatternden Mopeds. Aber Boltanski und Chiapello zerreißen den Zusammenhang zwischen Ich und Wir, der für ’68 als politisches Ereignis maßgeblich war. Das Erbe von ’68 besagt, dass das Ich zerrinnt, das sich nur selbst bewahren will, und dass sich nur einem Ich, das sich zum Wir öffnet, die Welt offensteht.

Wie kommt es, dass ’68 ein zumindest in Teilen so politisch radikales Ereignis war, ein Ansturm gegen die Verhältnisse, der bis zur RAF führte? Begünstigend waren sicher die vielen verdeckten ­gesellschaftlichen Konflikte der BRD – doch was noch?
Die Achtundsechziger wissen aus ihrer Kindheit, dass Gesellschaft auf Gewalt beruht. Das ist die Erfahrung der Kriegskinder. Gewalt ist nicht etwas, dass übernatürlich über einen hereinbricht, sondern es ist konstitutiv für Gesellschaft. Politische Radikalität beinhaltet deshalb ein Verhältnis zur Gewalt. Die RAF ist auch ein Ergebnis von ’68, ein Resultat der inneren Bewegung dieses Ereignisses.

Sie sehen auch in der rot-grünen Regierung ab 1998 unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer ein Erbe von ’68. Die neue Außen- und Sozialpolitik wurde von einer veränderten Rhetorik begleitet, Bombenkrieg nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, repressiver Sozialstaat für, nicht gegen das Individuum.
Meine etwas irritierende Behauptung ist, dass Rot-Grün auch ein Erbe von ’68 ist. Es existiert natürlich eine Kontroverse innerhalb der Generation über diesen Teil der Geschichte: Sind Schröder und Fischer Verräter oder Vollstrecker ihrer früheren Ideale? Ich sehe bei den Akteuren von Rot-Grün vor allem den Mut, ans Grundgerüst der Bundesrepublik zu gehen. Danach war das Land ein anderes als davor. Für die Leute in Ostdeutschland war das eine besonders niederschmetternde Erfahrung, denn die wollten in das System der Bundesrepublik einwandern und fanden sich plötzlich in der Gesellschaft von Schröder und Fischer wieder. Der erste Kriegsein­satz der Bundeswehr, die Abkehr von einer Sozialpolitik der Statussicherung und die Hinwendung zu einem Regime der Aktivierung und Sanktionierung. Diese ­Seite von ’68 ist im Osten der Republik natürlich verhasst.

Wie interpretieren Sie, dass das Feindbild der »rot-grün versifften Achtundsechziger-Republik« ­unter Rechten und Konservativen zurzeit populär ist?
Die Kritik von der rechten und konservativen Seite an ’68 halte ich für ­absurd. Es wird niemand daran ­gehindert, konservativ zu sein, wie es die Rede vom angeblich linken Mainstream suggeriert. Wahr ist, dass man sich entscheiden kann, konservativ zu sein. Aber man muss sich eben auch entscheiden. ’68 hat verunmöglicht, dass es sich von selbst versteht, konservativ zu sein. Und zu einer Entscheidung gehört auch, dass man die Konsequenzen trägt. Die Konservativen wollen zwar konservativ sein, aber die Kosten sollen auf das Konto von ’68 gehen. Das geht nicht. Es gibt auch eine linke Kritik, die den Achtundsechzigern attestiert, in ­einem neoliberalen Selbstverantwortungsimperativ geendet zu haben. Das unterschlägt aber das Motiv der Befreiung in der Selbstbegründung. Und eine Antwort auf ’68 und was daraus geworden ist, kann meiner ­Ansicht nach daher nur lauten, Befreiung für heute zu denken.

Bini Adamczak hat kürzlich in ­ihrem Buch »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende« die These vertreten, dass ’68 vor allem in Korrespondenz zu den revolutionären Ereignissen von 1917 steht, also in der Folge des großen Befreiungsversuches des 20. Jahrhunderts. 1917 die ­Revolution der Gleichheit, 1968 die Revolte der Differenz. Halten Sie das für plausibel?
Das Verbindende besteht in der Notwendigkeit, sich über die moderne Idee der Revolution Rechenschaft abzulegen. Das entscheidende Missverständnis über 1917 ist die Behauptung, es hätte sich dabei um eine Regres­sion gegen die funktional differenzierte Moderne gehandelt. Es ging vielmehr um die Frage, ob es ein Allgemeines geben kann, welches die funktionale Differenzierung in emanzipatorischer Weise aufzuheben ­vermag. Dieser Impuls hat die am Ende terroristischen Regime der Gleichheit inspiriert. Eine Revolution, die modern ist, muss das hymnische Pathos der Gleichheit am zärtlichen Sinn für die Differenz messen. Es geht dabei nicht um die Anerkennung des Rechts auf Differenz, sondern darum, dass die Differenz zu einem Allgemeinen gehört, für das es sich zu leben und zu sterben lohnt. 1968 hat insofern einen anderen Blick auf 1917 ermöglicht. Wenn die Bedingungen heute nicht für ein neues 1968 und zum Glück gar nicht für ein neues 1917 sprechen, dann wird die Erinnerung an ’68 – und das ist nahe bei Adorno – zu der Erinnerung an einen versäumten Augenblick.

In der Linken ist seit den siebziger und achtziger Jahren die Rede von der Befreiung weitgehend durch die von der Gerechtigkeit abgelöst worden. ’68 zielte auf das Durchbrechen der Immanenz, in der Folge richtete man sich in dieser aber ein, richtete die Aufmerksamkeit auf Fragen der ­Repräsentationsgerechtigkeit und Ähnliches. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, dass es sich hier um eine der großen Selbsttäuschungen der Linken handelt, was für mich mit der Wahlniederlage von Hillary Clinton deutlich geworden ist. Die Idee, Emanzipation würde bedeuten, Rechte für möglichst viele sich unterdrückt fühlende Menschen und Gruppen anzuerkennen, und die damit einhergehenden Idee, dafür Räume der ­Sicherheit und des Schutzes zu schaffen, in denen persönliches Wachstum und wechselseitige Achtsamkeit gedeihen könnten, hat mit dem ­damaligen Verständnis von Politik nur noch wenig zu tun. Wenn man unter Linkssein die Durchsetzung von Regeln für Gerechtigkeit versteht, die festlegen, wem was unter welchen Umständen zusteht, dann hat man den Versuch über die Befreiung hinter sich gelassen. Und zwar nicht nur für die Einzelnen, sondern vor allem für das Ganze, in dem die Einzelnen sich befinden. Gerechtigkeit ohne Befreiung führt zu nichts.

 

Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder. Hanser, Berlin 2018, 128 Seiten, 17 Euro