Die linken Parteien Europas streiten sich über das Verhältnis zur EU

Völker, hört das Nationale

Seite 2 – Das Interessenbündnis zerbricht

 

Die einen klammern sich an die Reste des Sozialstaats und trauern den goldenen Jahrzehnten des sozialdemokratischen Paternalismus nach, wie er sich nur im Rahmen eines souveränen Nationalstaats entfalten konnte, die anderen träumen von einem neuen transeuropäischen Gesellschaftsvertrag: offene Grenzen für alle und am liebsten das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Zu übersehen, dass die Einführung des BGE tatsächlich einen sehr rigide organisierten Nationalstaat voraussetzt, gehört zu den großen Selbsttäuschungen dieser postmateriellen Generation.

Aber das Interessenbündnis zerbricht nicht erst nach gewonnenen Wahlen und der Übernahme von Regierungsverantwortung an seinen Widersprüchen, sondern schon jetzt. Das zeigt sich auf nationaler Ebene – in der Spaltung der Linkspartei in einen Wagenknecht-Lafontaine-Flügel und einen um Katja Kipping –, aber besonders schmerzhaft auf internationaler Ebene, wo der Streit zwischen Mélenchon und Tsipras schlagartig offenbart, dass es in zehn Jahren Euro-Krise zu keinem gemein­samen Programm, zu keiner gemeinsamen gesellschaftlichen Perspektive und zu keinen gemeinsamen Aktionen gekommen ist. Mélenchon muss sich fragen lassen, wo im Sommer 2015 eigentlich die französischen Solidaritätsstreiks zur Unterstützung der aufmüp­figen Griechen geblieben sind. Der Internationalismus ist ein Lippenbekenntnis geblieben.

Aber hätte er denn je eine reale Chance gehabt? Die Borniertheit dieser Parteien spiegelt tatsächlich die Begrenztheit des zurückliegenden Protestzyklus wider. Nach der Euphorie der internationalen Platzbesetzungen 2011 wähnte sich die Bewegung weiter, als sie tatsächlich war. Der Neosozialismus vereinte nicht nur heterogene soziale Gruppen, sondern auch heterogene Ideologieversatzstücke. Sie verheißen einerseits eine ganz neue zeitgemäße Organisation des Sozialen (»Sozialismus für das 21. Jahrhundert«) – Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter und Angestellten, Stärkung von kommunalen und föderalen Strukturen, Abbau von Hierarchien auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Liberalisierung der Kultur. Dagegen sehen sie sich als die Verteidiger der spätbürgerlichen Demokratie gegen den Neoliberalismus, die Rechten und den Lobbyismus.

Linke wollen zurück zu einem heroischen Parlamentarismus, zu echten Debatten, nehmen folglich an Wahlen teil und wollen in Koalitionen mitgestalten. Andererseits träumen die Ak­tivisten von einer Art Doppelherrschaft, also davon, dass neben dem Parlament noch andere Körperschaften der öffentlichen Gewalt (»Räte«) schalten und walten sollen. Vor gar nicht so langer Zeit beschwor man noch Venezuela als großes politisches Vorbild.

So unausgegoren widersprüchlich diese Weltanschauung auch daherkommt, sie stellt noch vollständig auf den nationalen Rahmen ab und liefert gerade keine Rezeptur für eine solidarische europäische Vernetzung. Dabei waren die transnationalen Tendenzen im letzten Zyklus sozialer Kämpfe offensichtlich. Auf ihre Radikalisierung und Verbreiterung sollten die Aktivisten setzen und dabei der Versuchung widerstehen, »Verantwortung zu übernehmen«, also wieder Politik im nationalen Rahmen zu machen.