Bassem Eid, palästinensischer Menschenrechtler, über den Friedensprozess, die BDS-Bewegung und die Bedeutung der wirtschaftlichen Lage

»Lasst den Friedensprozess ruhen«

Mit der »Jungle World« sprach Bassem Eid er über die internationale Finanzierung des palästinensisch-israelischen Konfliktes, die Auswirkungen der BDS-Bewegung auf palästinensische Arbeiter und die Auseinandersetzungen über die Abschiebung afrikanischer Flüchtlinge aus Israel.
Interview Von

Was sind derzeit die größten Probleme der palästinensischen Bevölkerung?
Die Menschenrechtslage ist für die Menschen, die unter der Herrschaft der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in der Westbank oder unter Hamas-Herrschaft im Gaza-Streifen leben, höchst beunruhigend. Als wir mit israelischen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert waren, waren wir stolz darauf, von Israelis verhaftet worden zu sein. Aber wenn die Menschenrechte von den eigenen Leuten verletzt werden, ist das meines Erachtens viel schädlicher für die Palästinenser. Wer beispielsweise von der PA ­verhaftet oder angeklagt wird, dem wird fortan misstraut, es gibt Gerüchte über die Gründe für die Verhaftung.
Leider werden die Menschenrechtsverletzungen der PA fast nie in den Medien angeklagt, die Rechte der Palästinenser unter palästinensischer Herrschaft wurden fast gänzlich vergessen. Das ist ein großes Versagen der internationalen Medien und Organisationen. Menschenrechtsverletzungen durch ­Israel landen fast immer auf der ersten oder zweiten Seite US-amerikanischer und vor allem europäischer Zeitungen. Ich habe schon so viele europäische Minister kommen und gehen sehen, sie haben Mahmoud Abbas, den Präsidenten der PA, besucht und ihn für seinen Einsatz für den Frieden gelobt. Aber keiner von ihnen hat je versucht, die Menschenrechtslage anzusprechen. Sie wollen ihre enge Freundschaft zu Abbas nicht gefährden und lassen ihn unwidersprochen von Demokratie, Pluralismus und Menschenrechten ­reden. Dieses europäische und internationale Verhalten ist eines der größten Hindernisse für die Verbesserung der Menschenrechtslage der Palästinenser unter palästinensischer Herrschaft.

 

»Ich habe palästinensische Arbeiter gesehen, die ihren Job durch BDS-Aktivitäten verloren haben.«

 

Warum vermeiden europäische Politiker den Konflikt mit Abbas?
Den Europäern geht es primär um politische Fragen, um den Friedensprozess und die Zwei-Staaten-Lösung. Ich erinnere mich an ein Treffen mit einem niederländischen Botschafter. Wir sprachen über Menschenrechtsverletzungen der PA. Er erwiderte, ich müsse mich gedulden, da Palästina ja noch kein Staat sei. Erst wenn es einen Staat gebe, könne man sich mit dessen ­Menschenrechtsverletzungen beschäftigen. Diese Haltung nützt nur Abbas, aber nicht den Palästinensern.

Welche Menschenrechtsverletzungen gibt es im Gaza-Streifen und der Westbank?
Die Hamas und die PA haben viele Menschen inhaftiert. Es handelt sich größtenteils um politische Gefangene; die PA nimmt Hamas-Leute gefangen, die Hamas steckt PA-Anhänger ins Gefängnis. Es gibt eine Art Wettlauf zwischen PA und Hamas, wer mehr Menschenrechtsverletzungen begehen kann. Viele Hundert Menschen werden teils jahrelang ohne Anklage oder Prozess gefangen gehalten und gefoltert. Als Israel diese Form von anklageloser Inhaftierung (»administrative deten­tion«) praktizierte, gab es einen internationalen Aufschrei. Das gleiche Vergehen seitens der PA oder der Hamas wird ignoriert. Es gibt Fälle, bei denen der oberste Gerichtshof in Ramallah die Freilassung von Gefangenen anordnete, doch die PA sich einfach weigert, dem Urteil Folge zu leisten. Stellen Sie sich vor, was los wäre, wenn die deutsche Regierung ein Urteil des Verfassungsgerichts ignorieren würde. Aber was die PA macht, interessiert gerade in Europa niemanden.

Von Israel begangene Menschenrechtsverletzungen sind ja trotzdem real.
Ja, aber man darf nicht vergessen, dass EU-Gelder fast ausschließlich an israe­lische Menschenrechtsorganisationen gehen, die israelische Vergehen anprangern, während entsprechende palästinensische Organisationen mit Schwerpunkt auf Vergehen der PA nur sehr wenig Unterstützung erhalten. Das zeigt, dass Europa mit zweierlei Maß beim israelisch-palästinensischen Konflikt misst.

Welche palästinensischen Organisationen kümmern sich um Menschenrechtsthemen?
Die palästinensische Zivilgesellschaft ist sehr schwach. Aus zwei Gründen: Erstens wegen der Angst vor Repression durch die palästinensischen Sicherheitskräfte. Zweitens ist es ist sehr schwer, für Organisationen Fördergelder zu erhalten, die sich mit den Vergehen der PA oder der Hamas beschäftigen. Die internationale Gemeinschaft will davon einfach nichts hören. Vor zwei Jahren habe ich für die britische Henry Jackson Society einen Bericht angefertigt, den ich 28 britischen Parlamentariern präsentieren durfte. Alle waren schockiert und sagten, man müsse etwas unternehmen, und sie wollten Abbas Briefe senden. Aber leider habe ich davon nichts mehr gehört, und in den britischen Medien ist kein Wort über meinen Bericht erschienen.

Sie kritisieren die Europäer für deren Fixierung auf den Friedensprozess und eine Lösung des Konflikts. Was wäre die Alternative?
Vom Osloer Abkommen an bis heute wurde das Leben der Palästinenser schlechter und schlechter. 99,9 Prozent aller Palästinenser würden sagen, dass das Leben vor Oslo besser war als danach. Vor Oslo gab es nicht solche Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, es gab keine Checkpoints. Ich erinnere mich, dass Leute mit dem Auto aus Gaza kamen und für ein paar Tage den Strand in Tel Aviv genossen.
Ich möchte die internationale Gemeinschaft davon überzeugen, dass alle ihre Friedensinitiativen, Friedensabkommen und Friedenskonferenzen gescheitert sind. Deshalb sollte man die Politik ruhen lassen und sich auf die Wirtschaft konzentrieren. Mit einer gedeihenden Wirtschaft kann der Weg zu einer zukünftigen Lösung des Konflikts bereitet werden. Die Wirtschaft ist das Wichtigste. Wenn man heute Palästinenser nach den drei für sie wichtigsten Dingen fragt, werden sie Arbeit sowie ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem nennen. Niemand redet von den Siedlungen, der Grenzmauer, der Gründung eines palästinensischen Staates. Ich glaube, dass mit wirtschaftlichem Aufschwung eine Abnahme der Gewalt einhergeht. Heute fragen sich Menschen ohne Arbeit: ­Warum soll ich nicht einfach einen Israeli abstechen, dann kann wenigstens meine Familie von dem Geld ­leben, dass ihr die PA jeden Monat überweisen wird. Solche Zahlungen für Mörder, »Märtyrer« und in Israel Inhaftierte tragen nur zu mehr Gewalt bei.

Sie schlagen vor, den Friedensprozess zu beenden?
Lasst den Friedensprozess ruhen, gebt beiden Seiten eine Auszeit für mindestens fünf Jahre, und lasst uns überlegen, wie wir einen wirtschaftlichen Aufschwung generieren können. Das glaube ich, und die Mehrheit der Paläs­tinenser wird meine Einschätzung teilen. Eine florierende Wirtschaft bedeutet Würde für die Menschen, deshalb wollen Palästinenser lieber in Israel als unter der PA arbeiten. So können sie das sechsfache Gehalt bekommen, und deshalb schmuggeln sich Menschen aus der Westbank nach Israel, um dort zu arbeiten. Wirtschaftlicher Wohlstand ist der Weg, der letztlich auch Frieden bringen kann.

Wird eine künftige Lösung des Konflikts durch die israelischen Siedlungsexpansion gefährdet?
Wenn die Bauarbeiten in den Siedlungen noch zehn Jahre weitergehen, wird es keine Zwei-Staaten-Lösung geben. Wenn man heute die Siedlungen ansieht, sind sie wunderbare Einkommensmöglichkeiten für Palästinenser. In der Westbank arbeiten 15 000 von ihnen in Siedlungen. Sie haben keine andere Wahl, sie wollen überleben und eine Zukunft für ihre Kinder sichern. Ich sehe nicht, dass die PA oder die internationale Gemeinschaft momentan wenigstens versucht, für sie andere Arbeitsplätze zu schaffen.

Sie sagen, dass ein Großteil der Palästinenser ähnlich denkt wie Sie. Woher kommt dann der ideologische Furor?
Es gibt so viele am israelisch-palästinensischen Konflikt beteiligte Akteure, dass dies nicht wirklich in der Hand der Israelis oder Palästinenser liegt. Ich weiß nicht, was die Interessen der Akteure sind, die einen endlosen Konflikt statt einer Lösung wollen. Aber ich kann sagen, dass Geld leider eine sehr üble Rolle dabei spielt. Manchmal gehe ich so weit zu sagen, dass es keine ausländische Unterstützung mehr geben sollte. Geld schafft nur mehr Gelegenheiten, den Konflikt zu managen, statt ihn zu lösen. Das ist, was in den meisten der 25 Jahre seit dem Abschluss des Osloer Abkommens geschehen ist. Es ist einfach zu viel. Was haben wir Palästinenser seit Oslo erreicht? Nichts. Die Unterstützung aus dem Ausland muss evaluiert und verändert werden. Es gibt so viele islamische Hilfsorganisationen und islamische Terroristen, die sich am Konflikt beteiligen. Man darf die Außenpolitik des Iran nicht vergessen. Der Iran hat ein großes Ziel: die Sicherheit Israels zu untergraben. Dafür dient dem Regime die Hizbollah im Norden und die Hamas im Süden. Es ist traurig, dass die Führung meines Volkes die Agenda einer fremden Macht verfolgt, statt die Interessen der eigenen Bevölkerung zu vertreten. Das ist es, was das Leben im Gaza-Streifen zur Hölle gemacht hat.

Einige internationale Aktivisten und Künstler sind der Meinung, den Palästinensern durch einen Boykott Israels helfen zu können.
Die BDS-Bewegung richtet meiner Meinung nach nichts als Schaden für die Palästinenser an, und ich sehe nicht, dass sie irgendeine positive Auswirkung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt hat. Ich habe palästinensische Arbeiter gesehen, die ihren Job durch BDS-Aktivitäten verloren haben, und ich habe nicht gesehen, dass sie danach Unterstützung durch die BDS-Bewegung erhalten haben. Wer will, dass ich Israel boykottiere, muss mir einen alternativen Weg zeigen, zu überleben und für meine ­Kinder zu sorgen. In den palästinensischen Gebieten gibt es keine BDS-Be­wegung, man sieht dagegen auf Märkten Tausende von Produkten mit israelischen Labels. Importe aus Jordanien oder Ägypten wären viel teurer. Der BDS-Bewegung geht es um das Ende Israels, nicht um ein Ende des Konflikts.

Wie ist die Situation afrikanischer Flüchtlinge in Israel?
Israel ist nicht an afrikanischen Flüchtlingen interessiert. Ein Großteil von ihnen kommt aus dem Sudan. In den vergangenen fünf Jahren haben einige von ihnen Straftaten begangen. Die ­Regierung möchte sie deportieren, aber Israel kann sie nicht einfach in ein Flugzeug setzen und in der Wüste abladen. Israel war die Zukunft der Flüchtlinge nicht egal, und es hat mit den afrikanischen Herkunftsstaaten über eine Aufnahme der Flüchtlinge gesprochen. Aber es gibt viele Hindernisse, auch in Afrika heißen nicht alle Länder Flüchtlinge willkommen. Viele Regierungen sagten, sie würden Flüchtlinge aufnehmen, die von sich aus in ihre Länder kommen, aber sie würden keine deportierten Flüchtlinge akzeptieren. Derzeit weigern sich Piloten der israelischen Fluggesellschaft El Al, Abgeschobene auszufliegen. In Israel gab es viele Proteste gegen den Regierungsbeschluss, rund 30 000 afrikanische Flüchtlinge zu deportieren. Ein Holocaust-Überlebender sagte kürzlich einer Zeitung, dass er die Flüchtlinge bei sich verstecken würde. Die israelische Öffentlichkeit ist gegen die Deportation der Flüchtlinge und die israelische ­Regierung weiß derzeit sowieso nicht, wie, wann und wohin sie die Menschen deportieren kann.