Wolfgang Hien, Medizinsoziologe, im Gespräch über die Unterschätzung von Schadstoffemissionen

»Oftmals heuchlerisch«

Seite 2 – »Es gibt Hunderte von aggressiven Lobbygruppen«
Interview Von

 

Die Lobbyvereinigung »Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor« (EUGT), die die Tests veranlasst hatte, wurde im vergangenen Jahr aufgelöst. Kommt die Maßnahme zu spät?
Es gibt Hunderte von aggressiven Lobbygruppen, die man alle gerne auflösen kann. Zumindest aber müsste aus Steuermitteln den unabhängigen Verbänden und kritischen Wissenschaftlern das Hundertfache an Zuwendungen gegeben werden, damit auch sie Lobbyarbeit im Sinne der Menschen und des Schutzes ­ihrer Gesundheit leisten können.

Ist es die Regel, dass konzernnahe Lobbyorganisationen solche Tests machen?
Das kommt leider häufig vor und wird von den Konzernen geheimgehalten. Gerade bei Pestiziden weiß man seit Jahrzehnten, dass besorgniserregende Daten geheim gehalten werden. Basagran, ein früher verwendetes Pestizid der BASF, hat in höheren Dosierungen im Tierversuch Krebs erzeugt. Das kam erst heraus, nachdem eine US-amerikanische Bürgerinitiative eine Klage auf ihr right to know gewonnen hat. Von Glyphosat ist das Gleiche durchgesickert, auch dieser Stoff erzeugt Krebs. Die zuständigen Behörden, in diesem Fall das Bundesinstitut für ­Risikobewertung, ein Teil des früheren Bundesgesundheitsamts, be­wegen sich im Strom einer industriehörigen Toxikologie und geben sich mit Forschungsergebnissen auf Basis geheimgehaltener Daten zu­frieden.

Sie haben in Ihrem Buch »Kranke Arbeitswelt« viele Beispiele konzernnaher Wissenschaft aufgelistet. Können Sie ein besonders Auffälliges nennen?
Ein eklatantes Beispiel ist das Asbest. Hier versucht eine starke Lobby, unterstützt von einigen wenigen weltweit führenden Wissenschaftlern, Weißasbest als harmlos darzustellen oder zumindest als weniger schädlich, als nicht oder nur in geringem Maß krebserzeugend. Diese Lobby versucht, das Rad der Geschichte ­zurückzudrehen und die momentan gültigen Grenzwerte aufzuheben. Zum Glück haben sich verantwortungsvolle Wissenschaftler offen gegen diese Lobby gestellt und aufgezeigt, dass deren Argumentation und angebliche Daten keine Basis be­sitzen. Es gibt nachweisbare Fälle, bei denen zuweilen viel Geld im Spiel ist. Ich habe dazu eine tiefergehende Untersuchung über die Verstrickung führender Arbeitsmediziner mit der Tabakindustrie gemacht. Es ging um das Passivrauchen, auch um die Belastungen etwa in Wohnungen, wo Kinder besonders exponiert sind.

Ist die Wissenschaft von der Wirtschaft korrumpiert?
Nein, es geht aber um ein Denken, in dem viele Wissenschaftler, Arbeits- und Umweltmediziner verfangen sind, was dazu führt, dass sie auch ohne Bestechung sehr industrie­nah eingestellt sind. Dazu gibt es ein aktuelles Beispiel: Geschäftsführer der EUGT war Michael Spallek, der zuvor Leiter des Gesundheitsschutzes der VW-Abteilung Nutzfahrzeuge war. Er hat zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin einen Vortrag angemeldet, der akzeptiert wurde und den er zusammen mit einem Kommunikationswissenschaftler an recht prominenter Stelle halten wird. Der Titel: »N0x-Risikokommunikation. Klärung eines Vexierbildes«. Dazu heißt es im Abstract: »›Vorzeitige Todesfälle‹ durch N0x-Emissionen sind nur ein theo­retisches Konstrukt und ohne praktische oder reale Bedeutung für das Individuum.«

Welche Rolle spielen gesundheitsschädliche Stoffe in der Arbeitswelt?
Expositionen in der Arbeitswelt sind höher als die in der sonstigen Umwelt. Diese Aussage gilt freilich nur hierzulande, nicht für die Schwellenländer und Länder der Dritten Welt, wo Kinder auf regelrechten Giftmülldeponien spielen. In den Industrienationen wird mit vielen neuen Stoffsystemen hantiert, Epoxidharzen, Isocyanaten, Nanopartikeln, die nur unzureichend auf Langzeitwirkungen untersucht sind. Auch hier findet ein Menschenversuch in größerem Maßstab statt, der nicht nach drei Stunden endet, sondern der ein Arbeitsleben lang läuft, das schon mit 45 oder 55 zu Ende sein kann wegen arbeitsbedingter Krankheit oder vorzeitigem arbeitsbedingtem Tod.

 


Wolfgang Hien ist Arbeitswissenschaftler und Medizinsoziologe. Er leitet die Forschungsstelle Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen und beschäftigt sich mit Gesundheitsbelastungen innerhalb der Wohn- und Arbeitswelt. Im VSA-Verlag ist sein Buch »Kranke Arbeitswelt« erschienen.
Am 9. Februar hält er im FAU-Lokal in Berlin einen Vortrag zum selben Thema.