Wolfgang Hien, Medizinsoziologe, im Gespräch über die Unterschätzung von Schadstoffemissionen

»Oftmals heuchlerisch«

Der Bremer Medizinsoziologe Wolfgang Hien warnt seit langem davor, die gesundheitliche Belastung durch Schadstoffemissionen der Industrie zu unterschätzen. Die Aufregung über die Abgastests der deutschen Autobauer verkenne die eigentliche Dimension der Probleme.
Interview Von

Die von deutschen Automobilkonzernen in Auftrag gegebenen Stickstoffdioxidversuche haben Schlagzeilen gemacht. Politiker aller Parteien äußerten sich ­empört. Die Konzernleitungen haben sich inzwischen davon ­distanziert. Wie glaubhaft sind solche Distanzierungen?
Als Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler befasse ich mich seit Jahrzehnten mit Gefahrenstoffen und Belastungen am Arbeitsplatz. Auf mich wirkt die Aufregung über diesen Fall sehr merkwürdig. Natürlich machen die Chemie- und die Pharmaindustrie seit mehr als 100 Jahren entweder selbst Experimente, auch mit Menschen, oder sie vergeben entsprechende Aufträge an Universitäten und andere Forschungsinstitute. Das ist erst mal überhaupt nichts Neues. Grundsätzlich ist es das Interesse der Industrie, herauszubekommen, wie viele Gifte der Mensch verkraften kann. Dabei haben die Unternehmen stets versucht, der viel wichtigeren Frage auszuweichen, was es für die Gesundheit bedeutet, wenn Menschen schädlichen Stoffen oder Giften über Jahre und Jahrzehnte aus­gesetzt sind.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Das Problem haben wir auch beim NO², dem Stickstoffdioxid. Die Versuche der RWTH Aachen, die mit völlig gesunden Personen über wenige Stunden gemacht wurden, sind ziemlich harmlos. Da konnte also gar nichts Schlimmes herauskommen. Die Exposition lag weit unterhalb derjenigen Werte, die jahrzehntelang als maximale Konzentration am Arbeitsplatz Geltung hatte. Dieser Wert lag bis zum Jahr 2008 bei fünf ppm (parts per million), das sind fünf Kubikzentimeter Gas in einem Kubikmeter Atemluft. In Gewicht umgerechnet wären das 9,5 Milligramm pro Kubikmeter. In Aachen wurden junge gesunde Leute maximal 1,5 ppm ausgesetzt.

 

»Die Versuche der RWTH Aachen, die mit völlig gesunden Personen während weniger Stunden gemacht wurden, sind ziemlich harmlos. Da konnte also gar nichts Schlimmes herauskommen. Die Exposition lag weit unterhalb derjenigen, die jahrzehntelang als maximale Konzentration am Arbeitsplatz Geltung hatte.«

 

Der sogenannte MAK-Wert gibt die maximal zulässige Konzentration eines Stoffes als Gas, Dampf oder Schwebstoff in der Luft am Arbeitsplatz an, bei der kein Gesundheitsschaden zu erwarten ist, auch wenn man der Konzentration in der Regel acht Stunden ausgesetzt wird. Der MAK-Richtwert wurde schon vor Jahren ­herabgesetzt.
Die MAK-Kommission hat den Grenzwert 2009 auf ein Zehntel heruntergesetzt, von fünf ppm auf 0,5 ppm, weil eben doch nicht auszuschließen ist, dass eine langfristige Exposition, die darüber liegt, Lungenschäden verursacht. Das weiß man längst und in Aachen wurde das erneut bestätigt.

Wo müsste die Kritik ansetzen?
Der eigentliche Skandal liegt erstens darin, dass Hundertausende Menschen am Arbeitsplatz über Jahrzehnte einer tatsächlich schädigenden Konzentration ausgesetzt waren, obwohl es seit Jahrzehnten Kritik an der alten Grenzwertsetzung gab. Zweitens ist es ein Skandal, dass Millionen Menschen, vor allem Kinder, chronisch Kranke und Alte, an stark befahrenen Straßen nicht nur acht Stunden am Tag und 40 Stunden in der Woche, sondern rund um die Uhr mit erheblichen Konzentrationen belastet sind, was statistisch gesehen mit Sicherheit Schäden verursacht. Der eigentliche Skandal ist, dass hier seit Jahrzenten ein Massenexperiment an Menschen vorgenommen wird. All das haben kritische Wissenschaftler seit langem thematisiert.

Wie haben Politik und Unternehmen auf diese Kritik reagiert?
Die Reaktion war immer verhalten. Man entgegnete uns: Wir leben halt nun mal in einem Industrieland, ein Zurück zur Natur kann es nicht geben, Kollateralschäden gibt es immer. Dass man sich jetzt plötzlich aufregt, ist oftmals heuchlerisch, manchmal vielleicht aber auch eine erste Erkenntnis, nach welcher Logik die Dinge bei uns laufen.

Sind die 25 Probanden, die sich den Abgastests unterzogen haben, überhaupt repräsentativ?
Es geht hier um toxikologische Forschungen, es ist der Versuch, erste Anzeichen einer schädigenden Wirkung beim Menschen zu ermitteln. Man kann derartige Tests durchaus mit wenigen Leuten machen, je nach Versuchsaufbau kann das schon ­Erkenntnisse bringen. Wichtig wäre, Befindlichkeitsstörungen genau wahrzunehmen.