Der Prozess des britischen EU-Austritts ist von Widersprüchen geprägt

Zwischen allen Stühlen

Der Prozess des britischen EU-Austritts ist von Widersprüchen geprägt.
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Theresa May muss derzeit wahre Wunder vollbringen. Die britische Premierministerin darf einen »harten« EU-Austritt nicht ausschließen, muss aber zugleich dessen Gegenteil forcieren. Wie widersprüchlich die Interessen sind, zeigt sich an der Frage der künftigen EU-Außengrenzen. So soll es zwischen Irland, das weiterhin zur EU gehören wird, und Nordirland keine Grenze geben, ebenso zwischen Nordirland und Großbritannien. Damit will die britische Regierung sicherstellen, dass die historischen, religiösen und poli­tischen Spannungen nicht wieder aufbrechen. Zwischen Großbritannien und der EU soll es hingegen eine Außengrenze geben. Wie das funktionieren soll, bleibt Mays Geheimnis.

Auch in der zweiten Verhandlungsrunde, die vergangene Woche begann und bei der es unter anderem um die zweijährige Übergangsphase nach dem EU-Austritt ging, verfolgt May eigentlich miteinander unvereinbare Ziele. Großbritannien will bis März 2019 aus der Europäischen Union, dem Binnenmarkt und der Zollunion austreten – und zugleich eine »tiefe und besondere Partnerschaft« mit der EU eingehen.

Die eine Möglichkeit wäre, dass Großbritannien alle bisherigen Vereinbarungen annuliert und anschließend einen Freihandelsvertrag mit der EU schließt. Dann wäre die Londoner City, Europas wichtigstes Finanzzentrum, vom kontinentalen Binnenmarkt abgeschnitten. Viele Finanzinstitute haben deshalb bereits angekündigt, die Insel zu verlassen. Einen Bankenexodus kann Großbritannien aber kaum verkraften – keine andere Branche trägt so entscheidend zum britischen Bruttosozialprodukt bei.

Als zweite Möglichkeit, um weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten, könnte May ein Assoziierungsabkommen schließen, ähnlich dem, wie es beispielsweise zwischen der EU und Nor­wegen besteht. Allerdings müsste das Königreich dafür auch die EU-Freizügigkeitsregeln und damit den ungehinderten Zuzug von EU-Bürgern akzeptieren. Eine solche Entscheidung wäre wiederum der Albtraum aller Befürworter eines harten Ausstiegs. Großbritannien würde damit faktisch weiterhin zur EU gehören, ohne über politische Mitsprache zu verfügen.

Zumindest rhetorisch wird May daher die Norwegen-Option nicht lautstark propagieren, auch wenn die Kräfte stärker werden, die sie in diese Richtung drängen. Während in den ersten Monaten nach dem Referendum von einem wirtschaftlichen Niedergang, den die Gegner des EU-Austritts prognostiziert hatten, nicht viel zu spüren war, hat sich mittlerweile die Lage geändert. Die Kaufkraft sinkt wegen des schwachen Pfunds, zugleich steigt die Inflations­rate. Unternehmen halten sich bei Investitionen zurück, schließlich weiß niemand, wie die Beziehungen zum europäischen Binnenmarkt künftig aussehen sollen.

Das Kapital jedenfalls zeigt sich wenig patriotisch. Um sicherzustellen, dass »Autos weiter fahren, Flugzeuge weiter fliegen und Medikamente weiter wirksam bleiben«, forderte etwa der Verband der chemischen Industrie die britische Regierung vor dem EU-Gipfel von vergangener Woche auf, »alles zu tun, um im oder so nah wie möglich am« Regelwerk der EU zu bleiben.

Für diese Option gibt es bereits eine eigene Bezeichnung. Der »Bino«, ein Brexit in name only, wäre eben ein Ausstieg nur dem Namen nach, auch wenn May den EU-Gegnern das Gegenteil weismachen muss. Den Kuchen zu essen und ihn gleichzeitig zu behalten, wird aber auch für May kaum möglich sein.